Keine Grundsicherung für Schwerstbehinderten:Überlebenskampf im Rollstuhl

Froschatmungsdozent Ferdinand Schießl in seinem Rollstuhl.

Froschatmungsdozent Ferdinand Schießl kämpft mit der Stadt München um die Grundsicherung.

(Foto: Catherina Hess)

Trotz Schwerstbehinderung kann Ferdinand Schießl einigermaßen selbstbestimmt leben. Unter anderem dank eines speziellen Vertrags mit der Krankenkasse. Genau daran stößt sich aber die Stadt München. Nun geht dem Mann im Rollstuhl das Geld aus.

Von Thomas Hahn

Ferdinand Schießl kennt den Kampf ums Überleben. Er hat ihn schon so oft geführt, dass es ihm so vorkommen könnte, als wäre der Überlebenskampf sein Beruf. Er hat eine gewisse Übung darin, wobei er sich nie an die Unsicherheit gewöhnen wird, die damit verbunden ist, und an dieses Gefühl, sich ständig rechtfertigen zu müssen dafür, dass er nicht tot sein will.

Ferdinand Schießl ist ein guter Überlebenskämpfer, weil er den Überlebenskampf nie nur für sich führt und nie abgleitet in einen Tonfall selbstmitleidiger Klage. Im Gegenteil, von seinem Überlebenskampf geht eine starke Botschaft aus. Schießl sagt mit seinem Kampf: "Ja, die Kinderlähmung hat mich in den Elektrorollstuhl gedrückt, sie hat mir kaum körperliche Kraft gelassen, sie beeinträchtigt meine Atmung, und sie hat mich in die Situation gebracht, dass ich 24 Stunden am Tag Pflege brauche. Aber trotzdem ist das Leben schön. Trotzdem genieße ich die Freiheit."

Und diese Botschaft geht auch von seinem aktuellen Überlebenskampf aus, über den der Menschenrechtsaktivist, Atemlehrer und frühere Leistungssportler Ferdinand Schießl, 56, allerdings sagen muss: "So schlimm wie jetzt mit dem neuen Konflikt war es für mich noch nie."

Der neue Konflikt. Er bietet ein anschauliches Beispiel dafür, wie Menschen mit Schwerstbehinderung bisweilen gegen die kalten Mauern behördlicher Rechtsauffassungen prallen und wie dabei ihr eigenes Recht auf selbstbestimmtes Leben ins Wanken gerät. Für Schießl ist er eine ernste Nervenprobe und für die Gemeinde der Schwerstbehinderten ein böses Signal. Schießl sagt: "Wenn diese Sachlage so gehandhabt wird wie jetzt, dann trifft das ganz viele Menschen." Nämlich viele, die wie er ihr Leben nach dem sogenannten Arbeitgeber-Modell organisieren.

Maximal 2600 Euro auf dem Girokonto erlaubt

Das Arbeitgeber-Modell gibt Menschen mit schwerster Behinderung die Möglichkeit, außerhalb von Heimen in eigenen Wohnungen zu leben, indem sie ihre Pfleger als Assistenten anstellen und als deren Arbeitgeber auftreten. Krankenkasse und Kommune finanzieren das Modell.

Für den Lebensunterhalt wie Miete und Heizung gibt es daneben die Grundsicherung, wobei die Kommune scharf darauf achtet, dass kein Vermögen anfällt. Ferdinand Schießl zum Beispiel darf auf seinem Girokonto höchstens 2600 Euro haben. Und daraus ist nun sein Problem entstanden.

Seit wenigen Jahren gibt es für Leute wie ihn einen Rechtsanspruch, seine Assistenten über ein persönliches Budget zu finanzieren. Schießl machte dieses Recht erfolgreich geltend und handelte mit seiner Krankenkasse einen Budgetvertrag aus. Seither bekommt er monatlich einen festen Betrag, über den er seine Pflege finanzieren kann, der Löwenanteil davon kam von der Krankenkasse, der Rest von der Stadt.

Die Krankenkasse ermöglichte ihm, zweckgebundene Rücklagen zu bilden, die er erst am Ende der Budget-Laufzeit aufgebraucht haben muss. "Damit kann ich Ausfälle wie Krankheit oder Urlaub auffangen", sagt Schießl. Diese zweckgebundenen Rücklagen flossen auf sein Girokonto, über dessen Stand er die Stadt informieren muss, und natürlich meldete Schießl deshalb auch, dass sein Kontostand durch die Rücklagen weit höher war als 2600 Euro. Prompt deutete das Sozialamt das Geld als Vermögen, und als Schießl seinen neuen Antrag auf Grundsicherung bei der Stadt stellte, bekam er diesen nicht bewilligt.

Die Stadt kennt das Problem

Nun steht Ferdinand Schießl also mit einem vermeintlichen Vermögen da, das er nach dem Vertrag mit seiner Krankenkasse nicht für den Lebensunterhalt verwenden kann. Das aber gleichzeitig die Stadt dazu veranlasst, ihm die Förderung zu streichen, die er für seinen Lebensunterhalt braucht. Ihm geht das Geld aus. "Ich kann mir jetzt aussuchen, ob ich die Wohnung kündige oder ob ich nichts esse", sagt Schießl trocken.

Und was sagt das Sozialamt? Das Sozialamt hat ein Statement für die Presse vorbereitet. Inhalt: "Wegen bundesrechtlicher Vorgaben" könne die Stadt nicht helfen, Schießl dürfe nun mal nicht mehr als 2600 Euro auf dem Konto haben. "Nachdem selbstverständlich auch der Oberbürgermeister und die Sozialreferentin dieses Ergebnis unbefriedigend finden, wird sich Herr Oberbürgermeister Ude an den Deutschen Städtetag wenden, um über diesen eine Änderung der zugrunde liegenden gesetzlichen Vorgaben zu erreichen."

Aber berücksichtigt die Stadt bei ihrer Haltung auch, dass Schießls vermeintliches Vermögen zweckgebunden ist? Dass er damit nicht kaufen kann, was er will? Die Stadt bittet kurz um Geduld und antwortet am nächsten Morgen schriftlich. Ferdinand Schießl habe "den Ermittlungen des Amtes für Soziale Sicherung zufolge" ein frei verfügbares Vermögen, das reiche "für eine angemessene Lebensführung".

Letzte Lösung: Der Rechtsweg - aus eigener Tasche

Ende der Durchsage. Eine Lösung? Keine. Ferdinand Schießl müsste gegenüber seiner Krankenkasse schon vertragsbrüchig werden, wenn er mit dem, was die Stadt "Vermögen" nennt, Miete oder den nächsten Einkauf zahlt. Seine Anwältin Anja Bollmann sagt: "Man bringt Herrn Schießl in die Situation, dass er sich selbst schaden muss."

Auch die Vorlage "aller Arbeitsverträge mit Angabe der Vergütung" habe keine Bewegung in den Fall gebracht: Schießl steckt in der Sackgasse. Anja Bollmann muss ihm raten, eine Einstweilige Verfügung anzustrengen, sie sagt: "Die Stadt zwingt ihn auf seine Kosten den Rechtsweg einzuschlagen."

Schießl ist kein ängstlicher Typ. Er war früher Torwart und Kapitän des Elektrorollstuhl-Hockey-Bundesligisten Munich Animals, er war bei Podiumsdiskussionen, hat sein Leben für eine Fernsehdokumentation erzählt und ist hohen Politikern vor die Füße gefahren, um sie auf die Belange von Menschen mit Behinderung aufmerksam zu machen.

Wenn er sich an sein selbstbestimmtes Leben klammert, dann auch deshalb, weil er den Raum braucht, um sich in die Gesellschaft einbringen zu können, Vorträge in Schulen zu halten und seine Kurse in Frosch-Atmung - in Atmen ohne Zwerchfell - zu geben. Aber jetzt hat er doch Angst, weil ihm die ganze Angelegenheit so willkürlich vorkommt. Und nicht nur er hat Angst. "Alle haben Angst, dass es ihnen auch so geht", sagt Schießl. "Irgendwas muss ja dahinterstecken. Entweder man will das Budget stürzen oder man will nichts mehr ausgeben für pflegebedürftige Menschen. Ich weiß es nicht."

Wer ihm jetzt was spenden will, den muss Schießl gleich enttäuschen. Spenden nimmt er nicht, sonst käme ja schon wieder was aufs Konto. Nur Protest helfe, sagt er. Und gegen die akute Not das Darlehen eines Freundes. "Ich muss mich noch mehr pleite machen, damit die von der Stadt einsehen, dass das Irrsinn ist, was die machen." Er hasst es, seine Freunde in die Sache mit reinzuziehen. Er schläft schlecht zurzeit. Ferdinand Schießl fragt sich, wie das sein kann, dass er von seinem Elektrorollstuhl aus um etwas bangen muss, das für die meisten anderen Menschen in der Stadt selbstverständlich ist: ums Überleben in Freiheit.

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