Ihr Bruder Rafael ist im November 1944 im KZ-Außenlager Riederloh II bei Kaufbeuren ums Leben gekommen – ein solch grausamer, unmenschlicher Ort, dass ihn Überlebende beider Lager als „schlimmer als Auschwitz“ bezeichneten. Sara Zelwer-Orbach aber hat den Holocaust überlebt, als einzige ihrer Familie mit fünf Geschwistern. Sie hat geheiratet, sie hat Vorträge gehalten und Bücher geschrieben über die Zeit der Verfolgung, sie hat sich ein Leben in Israel aufgebaut. Ihre Kinder, so ist es im Stadtmuseum Kaufbeuren zu lesen, können deshalb trotz allem folgende Botschaft weitergeben: „Am Ende hat das Gute das Böse besiegt.“
„Massenverbrechen Zwangsarbeit. Kaufbeuren wagt Erinnerung“ heißt das neue Ausstellungsprojekt, das als Intervention in der Dauerausstellung des Stadtmuseums bislang nicht erzählte Geschichten in den Blick nehmen will: über Einzelschicksale, auch über Orte der Zwangsarbeit in Kaufbeuren – von Ende Januar bis Ende April sind dabei auch Arbeiten der Künstlerin Cornelia Renz zu sehen. Es sei „ein Wagnis, sich dieser Zeit zu stellen“, sagt die Historikerin Maria Anna Willer, die das Ausstellungskonzept verantwortet. „Massenverbrechen Zwangsarbeit soll Auftakt sein für weitere Forschung und Auseinandersetzung mit dem Thema“, sagt Museumsleiterin Petra Weber.

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Gleich beim Eingang steht eine große Tafel mit mehr als 4000 Namen, die die Opfer von Zwangsarbeit in Kaufbeuren aus der Anonymität holen soll. Menschen aus 35 Nationen wurden in die Stadt verschleppt, die damals 12 000 Einwohner hatte. Knapp 600 Tote sind dokumentiert. „Es waren Menschen, keine Zahlen, wir wollten ihnen einen Namen geben“, sagt Historikerin Willer. Acht Monate haben sie geforscht, Aktenbestände im Stadtarchiv wiederentdeckt, Listen von Häftlingstransporten aus Dachau durchforstet und versucht, mit Betroffenen oder ihren Nachfahren in Kontakt zu treten, wie im Fall von Sara Zelwer-Orbach oder Francesco Caputo.
Der Italiener geriet 1943 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Von September 1944 an leistete er in der Dynamit AG in Kaufbeuren Zwangsarbeit, bis die Amerikaner im Mai 1945 das Lager befreiten. Francesco Caputo machte sich zu Fuß auf den Weg in seine Heimatstadt Barletta in Süditalien, 1700 Kilometer. Mit seinen Kindern hat er kaum über seine Zeit in Deutschland gesprochen. Umso bewegter war sein Sohn Pasquale, dass die Stadt Kaufbeuren nun seines Vaters gedenkt. Pasquale Caputo, 1949 geboren, wiederholte den Weg seines Vaters von Kaufbeuren nach Barletta vor zwei Jahren per Fußmarsch. Er sagt: „Unser Wohlstand, unsere Freiheit, unsere Demokratie sind uns nicht geschenkt worden.“ Dies alles sei mit dem Blut und Opfer vieler Menschen aus der ganzen Welt, Deutsche eingeschlossen, erobert worden.
Die Ausstellung fragt, wo die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gelebt haben, und unter welchen Umständen. Aufschlussreich ist eine Hörstation im obersten Stockwerk des Museums, die über eingesprochene Protokolle von Zeugenaussagen den Sadismus begreifen lässt, der im Lager Riederloh II geherrscht hat. Einer der Männer, die als Totengräber eingesetzt wurden, erzählt von einem Morgen, an dem „nur sechs Tote“ zu verzeichnen gewesen waren. Als der Aufseher davon erfährt, lässt er fünf Gefangene vortreten, die fünf weitere mit Holzstöcken totschlagen müssen. So etwas, erzählt der Totengräber, sei nicht nur einmal vorgekommen.



„Zwangsarbeit war allgegenwärtig“, sagt Museumsleiterin Weber. Das zeigt eine große Karte mit den vielen Stätten in und um Kaufbeuren, an denen Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Häftlinge im Einsatz waren. Etwa die Weberei Momm, die Fallschirmseide und Anschnallgurte für die Luftwaffe fertigte. Oder die Dynamit AG, in der auch Francesco Caputo arbeiten musste, in der in 195 verschiedenen Gebäuden in einem 450 Hektar großen Waldgebiet Munition produziert wurde. Im sogenannten Laboriergebäude, wo Frauen Sprengstoff abfüllten, traten giftige Dämpfe aus, Haut und Haare der Arbeiterinnen färbten sich braunrot – zur Entgiftung erhielten sie täglich eine Tasse Milch. Zum Essen bekamen Zwangsarbeiter aus den Lagern oft nur Suppe aus Kartoffelschalen.
Nicht eingezeichnet auf der Überblickskarte sind die Arbeitsstellen bei Privathaushalten, im Haushalt, in der Landwirtschaft oder im Handel. Trotz Aufrufen, sagt Weber, sei es bislang nicht gelungen, Fotografien oder Erinnerungen an ausländische Zwangsarbeitende, die auf solche Stellen gelangten, zu finden. Das war im Frühjahr 2018 anders, als das Museum die Bevölkerung erstmals aufrief mitzuhelfen, zeitgeschichtliche Objekte zur Verfügung zu stellen und so die Historie greifbar zu machen. Es meldeten sich so viele Spender, dass am Ende gar nicht alle Stücke ausgestellt werden konnten.
Das Stadtmuseum befindet sich seit Jahren auf Spurensuche, um die Zeit des Nationalsozialismus in und um Kaufbeuren aufzuarbeiten. Weber geht dabei bewusst einen partizipativen Ansatz, der dem Museum und der Stadt viel Anerkennung eingebracht hat. 2013 war das Museum in seiner jetzigen Form eröffnet worden, bald schon wurde Kritik laut an der Darstellung und Aufarbeitung der NS-Zeit.
Weber als neue Leiterin hat sich der Kritik angenommen und nachgebessert, seit Jahren laufen verschiedene Projekte in der Stadt, ob im Museum, über eine Schriftenreihe „Kaufbeuren unterm Hakenkreuz“ oder in Zusammenarbeit mit Schülern – alles mit dem Ziel, die Dauerausstellung zu überarbeiten und neu zu konzipieren. Auch das Thema Zwangsarbeit, sagt Weber, sei nicht abschließend erforscht. „Wir haben noch viele Lücken, unsere Spurensuche geht weiter.“