Justizopfer in Bayern:Ein Name wie ein Fluch

Justizvollzugsanstalt Straubing

Unschuldig hinter Gittern: Hier, in der Justizvollzugsanstalt Straubing, verbüßte Donald Stellwag seine Haftstrafe nach dem angeblichen Banküberfall.

(Foto: Armin Weigel)

Donald Stellwag saß fast fünf Jahre in Haft - wegen eines Bankraubs, den er nicht begangen hat. Er wurde rehabilitiert, aber sein Name taucht immer wieder bei Ermittlungen auf. Wie jetzt, bei einem schmutzigen Uhren-Deal.

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

Eines ist schon bald klar in diesem Prozess vor dem Landgericht Nürnberg: Die 505 000 Euro, die ein Schweizer Geschäftsmann in einen dubiosen Deal investiert hat, die sind weg. Der Schweizer sagt, ihn habe dieses Geschäft ruiniert. Wegen Betrugs verantworten muss sich dafür ein 51-jähriger Mann aus Lauf, er soll dem Schweizer insgesamt 14 700 Uhrwerke versprochen, die Ware aber nie ausgeliefert haben. Allerdings wird schon am ersten Verhandlungstag vor drei Wochen in Nürnberg relativ rasch klar, dass da jemand fehlt im Gerichtssaal. Einer, der offenbar bei dem Geschäft eine entscheidende Rolle gespielt hat: Donald Stellwag. Der Mann aus der Nähe von Nürnberg gilt als eines der berühmtesten Justizopfer der Republik. Schon wieder Stellwag also, den sie in der Nürnberger Justiz wie eine Art Fluch fürchten. Fast noch vor Mollath.

Der Anwalt Uwe Willmann muss schmunzeln, wenn er erzählt, wie er und sein Mandant darauf gekommen sind, dass an der Geschichte mit den Uhrwerken wohl auch Stellwag beteiligt gewesen sein muss. Sein Mandant, der Schweizer Geschäftsmann, berichtete ihm davon, wie er mal zu Besuch bei zwei Männern in Lauf war. Die beiden kamen ihm seriös und sehr wohlhabend vor, einmal soll dem Schweizer sogar eine schöne Edelstein-Sammlung präsentiert worden sein. Angeblicher Wert: eine hohe dreistellige Millionensumme.

Ein Schweizer fährt nach Franken, um an Schweizer Uhrwerke zu kommen?

Der Schweizer versteht etwas von Edelsteinen, jedenfalls dachte er das bis zu dem Zeitpunkt. Er hielt die Steine für echt. Und glaubte auch, dass die beiden Herren aus Franken ihm tipptopp hergestellte Schweizer Uhrwerke beschaffen könnten. Ein Schweizer fährt nach Franken, um dort an Schweizer Uhrwerke zu kommen? Wäre womöglich eine eigene Geschichte. Aber die mit Stellwag ist besser.

Jedenfalls berichtete der Schweizer seinem Anwalt von einer merkwürdigen Konstellation: Da war also der Händler, der spätere Angeklagte, über dessen Konto die Vorauszahlungen abgewickelt wurden. Und dann gab es einen anderen Mann, der viel Ahnung zu haben schien, beim Geschäft aber nicht groß in Erscheinung trat. Ein gewichtiger, offenbar schwer kranker Mann, der sich kaum vom Fleck bewegen konnte, eine auffällige Brille trug und sich mit Herr Steinbach vorstellte. Willmann kam ins Stutzen, googelte "Stellwag" und zeigte seinem Mandanten ein Bild. Der sagte: Ah genau, das ist Herr Steinbach. Nein, antwortete der Anwalt, das ist Herr Stellwag.

Willmann erzählte seinem Mandanten also die Story, wer Stellwag ist. Was der Schweizer wohl selbst gewusst hätte, wäre er ein Freund deutscher Talkshows. Denn Stellwag hatten sie fast alle zu Gast, Maischberger, auch Kerner. Und seine Geschichte war ja auch unfassbar: Stellwag, ein ehemaliger Hausmeister, saß fast fünf Jahre unschuldig hinter Gittern, weil er angeblich kurz vor Weihnachten 1991 eine Bank ausgeraubt haben sollte. Zwar gab es Belege, dass der Mann, der bereits einmal wegen Untreue zu drei Jahren Haft verurteilt worden war, dafür gar nicht infrage kam. Ein Gutachter glaubte ihn aber auf einem ziemlich mäßigen Foto aus der Bank ziemlich genau erkannt zu haben. Am charakteristischen Ohrläppchen.

Als die Fahndung gegen Stellwag eingeleitet wurde, hatte der sich noch freiwillig ins Polizeipräsidium begeben und gelacht. Er wusste ja, dass er sich zur Tatzeit im Hotel "B 91" in Leuna aufgehalten hatte, 200 Kilometer entfernt von der überfallenen Sparkasse in Nürnbergs Scharrerstraße. Am 16. Februar 1994 wurde Stellwag gleichwohl zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, wegen räuberischer Erpressung.

Untergebracht mit Schwerverbrechern

Er wurde dort inhaftiert, wo Schwerverbrecher in Bayern eingesperrt werden: in der Justizvollzugsanstalt Straubing, wo er die gesamte Haftzeit verbüßte. Würde er sich mit seiner Tat "identifizieren", sagte man ihm, so könnte man ihn früher rauslassen. Aber einräumen müsse er die Tat, das sei die Bedingung. Stellwag lehnte ab. Drei Wochen nach seiner Entlassung wurde ein großer, dicker Mann gefasst, der eine Bank überfallen hatte. Weitere Überfälle konnten ihm nachgewiesen werden. Bei der Gelegenheit gestand er, auch die Sparkasse in Nürnberg überfallen zu haben. Also nicht Stellwag.

150 000 Euro

Der Fall des Donald Stellwag hat bereits Rechtsgeschichte geschrieben. 2007 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt einen Gerichtsgutachter dazu, 150 000 Euro als Schmerzensgeld an Stellwag zu zahlen. In der Höhe gab es das bis dahin nie. Der Gutachter, spezialisiert auf vergleichende anthropologische Analysen, hatte den korpulenten Mann auf dem Bild einer Bank mit Stellwag verglichen. Und war davon überzeugt, dass der Mann auf dem Bild zweifellos Stellwag sei. Der war zu der Zeit aber 200 Kilometer vom Tatort entfernt. Teile der Expertise hat Stellwag in der JVA Straubing auswendig gelernt. "Auch das Ohrläppchen des Angeklagten stimmt in Anwachsungsgrad und Verlauf vollkommen mit dem Ohrläppchen..."

Man könnte jetzt zurückkehren zum aktuellen Fall in Nürnberg, bei dem Stellwag mindestens eine Nebenrolle zukommt. Aber vorerst muss man noch eine weitere, kaum minder spektakuläre Etappe im Justiz-Epos des Donald Stellwag streifen, ohne die man den aktuellen Fall in einem wesentlichen Aspekt kaum versteht. Sie führt in die Nähe von Ludwigsburg, wo 2009, wieder kurz vor Weihnachten, ein Goldtransporter überfallen wird unter Umständen, für die ein Drehbuchschreiber wegen überbordender Fantasie gescholten würde. Auf der Autobahn zwischen Mundelsheim und Pleidelsheim halten zwei Männer in Uniform den Transporter an: Sie seien Steuerfahnder und soeben werde die Firma des Chefs, eines Goldhändlers aus der Oberpfalz, durchsucht. Die Fahrer seien vorläufig verhaftet.

Dass da was nicht stimmen kann, schwant den Fahrern erst, als sie gefesselt in einem Wald bei Heilbronn ausgesetzt werden. 1,9 Millionen Euro war das geraubte Gold wert, bis heute gilt es als verschwunden. Der Verdacht fiel bald auf fünf Männer aus dem Rapper-Milieu. Unter Tatverdacht geriet aber auch: Donald Stellwag. Er soll, so war die Staatsanwaltschaft überzeugt, den Gangster-Rappern einen Tipp gegeben haben, wie man ans Gold aus dem Transporter kommen könnte. Vor Gericht schwiegen die Rapper zunächst, als sie doch ein Geständnis ablegten, nannten sie tatsächlich Stellwag als Drahtzieher. Zu bis zu acht Jahren Haft wurden die Goldräuber verurteilt. Stellwag dagegen musste nicht vor Gericht erscheinen. Er wurde von zwei Gutachtern für nicht verhandlungsfähig erklärt. Stellwag leidet unter einem schweren Tumor.

Das alles muss man wohl wissen, will man verstehen, wie vornehm zurückhaltend sich die Staatsanwaltschaft im aktuellen Fall, in der Sache mit den Schweizer Uhren, verhält. Stellwag ist erstens einer, dem die Justiz schon mal einen Tort angetan hat. Er war zweitens schon in dem Goldraub-Fall nicht verhandlungsfähig und dürfte das auch weiter nicht sein. Und die Justiz hat wohl drittens kaum Interesse daran, den Fall des vermeintlichen Bankräubers Donald Stellwag immer wieder neu aufgeblättert in der Zeitung zu lesen.

So kam es zu einer kuriosen Szene im Gerichtssaal. Der Prozess gegen den Geschäftsmann aus Lauf war ursprünglich auf nur einen Verhandlungstag angesetzt gewesen. An diesem ersten Tag im Juli aber fiel so oft der Name Stellwag, respektive "Steinbach", dass das Gericht zur Überzeugung kam: Ohne Stellwag vorzuladen, zumindest als Zeugen, werde man der Wahrheit in der Sache wohl kaum nahekommen. Also ein zweiter Verhandlungstag, drei Wochen später.

"Und wo ist Herr Stellwag?"

Der begann am Dienstag mit der Frage des Richters: "Und wo ist Herr Stellwag?" Der Staatsanwalt teilte daraufhin mit, dass sich gerade in diesem Moment ein Polizist zu einer Wohnung in München begebe, die Adresse habe Stellwag mal in einem Hartz-IV-Antrag angegeben. Im Laufe des Verhandlungstages konnte man dann quasi live miterleben, wie der Polizist dort ermittelt, der Staatsanwalt und auch der Richter schilderten es den Prozessbeteiligten im Saal, zum Teil informiert über Handy. Zehn Parteien wohnen in dem Haus, berichtete der Polizist, die Nachbarn, die er angetroffen habe, würden keinen Stellwag kennen. Der Mann, der sich kaum bewegen kann, sei also unauffindbar. Im Städtchen Lauf ist er nämlich auch nicht.

Immer wieder behauptet einer: "Der Dicke war's"

Der Anwältin des Angeklagten, Nicole Obert, platzt noch im Saal der Kragen. Seit mehr als einem Jahr sei der Fall nun anhängig bei der Justiz. Für drei Wochen habe man den Prozess unterbrochen, nur um Stellwag aufzutreiben. Und nun sitze man im Gericht und sei zum Däumchendrehen verurteilt, "weil die Staatsanwaltschaft nicht in die Füße kommt". Der Staatsanwalt blättert derweil, offenbar peinlich berührt, in Unterlagen und schweigt.

Der Richter stellt das Verfahren gegen den Angeklagten am Ende ein. Ohne Stellwag, den der Angeklagte als den eigentlichen Drahtzieher des Betrugs beschuldigt, könne man nichts anderes machen.

Immerhin: Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wieder gegen Stellwag. Aufgrund der Aussage des Angeklagten vor Gericht erkenne man jetzt "einen Anfangsverdacht". Nur finden müsse man ihn eben erst. Eine private Detektei, vom Geschäftsmann aus der Schweiz beauftragt, sei daran ja ebenfalls schon gescheitert.

Manfred Neder, der Stellwag als Anwalt in den vergangenen zwei Jahrzehnten vertreten hat, findet das alles lächerlich. Schon bei der Sache mit dem Goldraub habe Stellwag sich nichts zuschulden kommen lassen. Womöglich habe er den Rappern damals etwas erzählt, was diese mit Interesse zur Kenntnis genommen hätten. Nie aber habe er sie zu einem Goldraub animiert. Und nun trete da also schon wieder einer vor Gericht auf und behaupte: "Der Dicke war's", sagt Neder. Das behaupte sich ja so leicht, sein Mandant kenne das inzwischen. Er selbst wisse im Übrigen auch nicht, wo Stellwag sich aufhalte. Womöglich im Ausland und womöglich habe Stellwag gar nicht mitbekommen, dass es da ein aktuelles Verfahren gebe. Aber selbst wenn er es wüsste: Stellwag würde gelassen reagieren, da ist sich Neder sicher.

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