Justiz:Krankenkassen klagen massenhaft gegen Kliniken

Stroke Unit an AK Altona

Bei sogenannten Stroke Units in Krankenhäusern handelt es sich um spezialisierte Abteilungen zur Schlaganfall-Behandlung.

(Foto: Angelika Warmuth/dpa)
  • In einem Bundesgesetz wurde die Verjährungsfrist für Klagen von Krankenkassen gegen Kliniken von vier auf zwei Jahre verkürzt.
  • Aus diesem Grund haben die Kassen bundesweit und massenhaft Klagen eingereicht, um der drohenden Verjährung zu entgehen.
  • Die Gerichte müssen sich umorganisieren, um der Klageflut Herr zu werden.

Von Stephan Handel

Die bayerischen Sozialgerichte stöhnen weiterhin unter der Klagewelle, die im November des vergangenen Jahres über sie hereingebrochen ist: Weil in einem Bundesgesetz die Verjährungsfrist für Klagen von Krankenkassen gegen Kliniken von vier auf zwei Jahre verkürzt wurde, haben die Kassen bundesweit und massenhaft Klagen eingereicht, um der drohenden Verjährung zu entgehen. Günter Kolbe, Präsident des Landessozialgerichts (LSG), sprach damals von 14 000 Klage-Eingängen innerhalb einer Woche - mehr als ein Viertel dessen, was die sechs Gerichte im Freistaat normalweise pro Jahr zu bearbeiten haben. Nun, ein knappes halbes Jahr später, wird klar: Es ist noch viel schlimmer.

Im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz wurde die verkürzte Verjährungsfrist festgeschrieben, um den Kliniken früher Rechtssicherheit zu geben und um sie davor zu bewahren, über Jahre hinweg finanzielle Rückstellungen bilden zu müssen. An die Folgen hatte offenbar niemand gedacht: Bundesweit wird die Zahl der nun von den Sozialgerichten zu bearbeitenden Fälle auf rund eine Million geschätzt, weil die Kassen vielfach einzelne Fälle in einer Klage zusammengefasst haben, in den meisten Fällen geht es um die "Stroke Units", spezialisierte Abteilungen zur Schlaganfall-Behandlung.

Als das Problem bis in die Bundespolitik vorgedrungen war, lud Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Kliniken und Kassen zu einem Gespräch. Heraus kam, am 6. Dezember 2018, eine "Einigungs-Empfehlung": Die Kassen sollten prüfen, ob die Verfahren nicht durch Klagerücknahme beendet werden könnten. In der danach verschickten Presseerklärung findet Spahn es "gut, dass sich Krankenkassen und Krankenhäuser geeinigt haben".

Allein: Genützt hat es wenig. In Bayern hat LSG-Präsident Kolbe Gespräche mit der AOK geführt, nach denen zumindest klar ist, wie viele Fälle diese eingeklagt hat: 130 "Pakete", also Klagen der AOK, enthalten demnach mehr als 22 000 Fälle - demnach schätzt Kolbe, alle Kassen zusammengenommen, mindestens 30 000 Fälle. Für unstreitig erklärt hat die AOK bislang weniger als 50 Prozent der Fälle - "also bleiben für uns alleine hier mindestens 11 000 zu entscheidende Verfahren", sagt Kolbe.

Aber auch die zurückgenommenen Klagen machen Arbeit: Im Gegensatz zu vielen Verfahren vor den Sozialgerichten sind solche von Kassen gegen Krankenhäuser kostenpflichtig - und zwar auch, wenn die eingereichten Klagen später zurückgenommen werden. Also müssen auch diese Fälle von einem Richter angeschaut werden, er muss einen Streitwert festsetzen, nach dem sich die Kosten richten, die Parteien müssen zum Streitwert gehört werden - all das kostet Arbeitskraft und Zeit.

Die Gerichte müssen sich schon jetzt umorganisieren, um der Klageflut Herr zu werden

Immerhin: Sechs Richterstellen und sechs Arbeitsplätze in den Geschäftsstellen, die eigentlich in diesem Jahr hätten wegfallen sollen, dürfen die Sozialgerichte in Würzburg, Bayreuth, Nürnberg, Regensburg, Landshut, Augsburg und München vorerst behalten. Dennoch hat Günter Kolbe nun an die zuständige Sozialministerin Kerstin Schreyer (CSU) einen Brief geschrieben und um Unterstützung gebeten. Eine Antwort steht noch aus. Kolbe sorgt sich aber nicht nur um seine Behörde und seine Mitarbeiter - er befürchtet auch, dass die Rückforderungen der Krankenkassen gerade kleinere Kliniken in Not bringen könnten - bis hin zu grundlegenden Auswirkungen auf die bayerische Krankenhausstruktur.

Jedenfalls müssen sich die Gerichte schon jetzt umorganisieren, um der Klageflut Herr zu werden. Das heißt, dass mehr Kammern mit Krankenkassen-Angelegenheiten befasst sind und dass notwendige Kapazitäten anderswo fehlen, bei der Rente, beim Arbeitslosengeld, im Schwerbehindertenrecht. Der Sozialverband VdK sieht die Gefahr, "dass es zu vielen Verzögerungen auch in der Bearbeitung von Fällen aus den Bereichen des Sozialrechts kommen wird, in denen der VdK Bayern seine Mitglieder vertritt", teilt Daniel Overdiek mit, der Leiter der Rechtsabteilung. "Wir fordern die Politik dazu auf, künftig die weitreichenden Konsequenzen in so spontanen Rechtsänderungen besser zu überdenken."

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