Als er wieder draußen ist, ist alles wie immer. Die Reisetasche mit seinen Habseligkeiten in der Hand, setzt sich Markus Weigel an einem Wintertag Ende 2015 in den Zug nach München, steigt am Hauptbahnhof aus und besorgt sich als Erstes "was zum Zumachen". Der Kick kommt schnell. An die ersehnte Abstinenz ist nicht mehr zu denken.
Ein paar Wochen später, ein Hinterhoflokal in München-Schwabing. Die Hilfsorganisation Condrobs betreut hier Drogensüchtige. Ein Tischfußballtisch, Plakate der Aidshilfe an den Wänden, Filterkaffee für 30 Cent. Neben der Tür eine schwarze Pinnwand mit Todesanzeigen: 1961 bis 2016, 1967 bis 2015, 1983 bis 2015.
Markus Weigel, Mitte 30, groß, kräftig, ruhig, tätowiert, fläzt auf einem braunen Kunstledersofa und erzählt mit einer tiefen, kratzigen Stimme von einer Drogenkarriere wie aus einem Abschreckungsfilm. Alkohol mit zwölf Jahren, dann Gras, Speed, Kokain, mit 14 erstmals Heroin, ein paar Jahre später Jugendhaft wegen Dealens. Immer wieder Substitution, Entzug, Rückfall, Substitution, Entzug, Rückfall, Substitution. Als Weigel wegen Diebstahls ins Gefängnis kommt, warnt ihn sein Zellengenosse: "Du kriegst hier nichts." Er behält recht.
Experten sehen Sucht heute als chronische Krankheit. Im Fall von Heroin gilt die Substitution als die beste Therapie: 77 000 Menschen, etwa die Hälfte aller Opiatsüchtigen, nehmen in Deutschland unter ärztlicher Aufsicht Heroin-Ersatzstoffe wie Methadon. "Opiatabhängigkeit entsteht meistens aus einer anderen psychischen Erkrankung heraus", sagt Markus Backmund, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin.
Dass ein Heroinsüchtiger dauerhaft ganz von Drogen wegkommt, ist daher selten - erst recht, wenn sich die Lebensumstände und die Ursachen für seine Sucht nicht ändern. Die Substitution heilt die Sucht zwar auch nicht, viele Substituierte nehmen neben den Ersatzstoffen weiter andere Drogen, manche verkaufen die verschriebenen Mittel am Schwarzmarkt weiter. Aber eine Langzeitstudie fand beim Großteil der Substitutionspatienten einen "positiven Verlauf": Der Anteil der Berufstätigen stieg, Drogenkonsum und Drogenkriminalität gingen zurück.
20 bis 30 Prozent aller Häftlinge sollen heroinsüchtig sein
Diese Erkenntnisse sind allerdings noch nicht überall angekommen. Die bayerische Justiz hat in den vergangenen Jahren mehrmals Substitutionsärzte angeklagt, und in einem Urteil des Münchner Oberlandesgerichts von 2012 heißt es über einen Süchtigen, er sei "nicht krank", sondern "vielmehr massiv drogenabhängig".
Für Süchtige in bayerischen Gefängnissen hat diese Einstellung drastische Auswirkungen. 11 000 Häftlinge gab es Ende 2015 in Bayern, etwa 2200 bis 3300 davon dürften heroinsüchtig sein. Sie sitzen meist kurze Strafen wegen Drogendelikten oder Diebstählen ab. Rechtlich steht ihnen in Haft dieselbe medizinische Behandlung zu, die sie in Freiheit bekommen würden. Und die Bundesärztekammer schreibt in ihren Richtlinien zur Substitution, dass in Haft "die Kontinuität der Behandlung sicherzustellen" ist.
Trotzdem gab es Ende 2015 in den bayerischen Gefängnissen nur 45 substituierte Gefangene, wie eine Sprecherin des Justizministeriums auf Anfrage der SZ schreibt. 45 von 11 000, das sind 0,4 Prozent. Zum Vergleich: In Berlin wurden 2015 etwa vier Prozent aller Häftlinge substituiert. In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen dürften es um die zehn Prozent sein, in Bremen um die 20. Dazu kommt: Die Bayern zählen offenbar, anders als etwa die Berliner, nicht nur dauerhaft substituierte Häftlinge mit, sondern auch all jene, die kurzfristig als Hilfe beim Entzug Substitutionsmittel bekommen.
Markus Weigel, der wie alle beschriebenen Süchtigen in Wirklichkeit anders heißt, nahm vor der Haft neben seinem Methadon auch Beruhigungsmittel, sogenannte Benzodiazepine. Deshalb wäre er wohl auch in anderen Bundesländern nicht nahtlos weitersubstituiert worden. Man hätte die Medikamente dort wohl behutsam über Wochen oder Monate herunterdosiert.
Und in Bayern? "Ich hab nichts bekommen, gar nichts", sagt Weigel. Vom ersten Tag an nichts. Kalter Entzug. "Als ich gefragt hab, ob ich wenigstens was zur Beruhigung haben kann, zum Schlafen, hat's geheißen: Da musst du einen Termin beim Psychologen ausmachen, das dauert zwei bis drei Wochen." Da lag er also, zitternd, schwitzend, kotzend, mit Schmerzen und epileptischen Anfällen, tagelang.