Justiz:Bayern verwehrt drogensüchtigen Häftlingen Therapie

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Gefängnisse wie die Justizvollzugsanstalt in Landsberg am Lech beherbergen auch Menschen, die eine Geldstrafe - etwa für Schwarzfahren - nicht bezahlen können. In Bayern versucht man, das anders zu lösen. (Foto: Johannes Simon/Getty Images)

Das schadet nicht nur den Insassen - sondern bedeutet auch ein Risiko für die Gesellschaft.

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Als er wieder draußen ist, ist alles wie immer. Die Reisetasche mit seinen Habseligkeiten in der Hand, setzt sich Markus Weigel an einem Wintertag Ende 2015 in den Zug nach München, steigt am Hauptbahnhof aus und besorgt sich als Erstes "was zum Zumachen". Der Kick kommt schnell. An die ersehnte Abstinenz ist nicht mehr zu denken.

Ein paar Wochen später, ein Hinterhoflokal in München-Schwabing. Die Hilfsorganisation Condrobs betreut hier Drogensüchtige. Ein Tischfußballtisch, Plakate der Aidshilfe an den Wänden, Filterkaffee für 30 Cent. Neben der Tür eine schwarze Pinnwand mit Todesanzeigen: 1961 bis 2016, 1967 bis 2015, 1983 bis 2015.

Markus Weigel, Mitte 30, groß, kräftig, ruhig, tätowiert, fläzt auf einem braunen Kunstledersofa und erzählt mit einer tiefen, kratzigen Stimme von einer Drogenkarriere wie aus einem Abschreckungsfilm. Alkohol mit zwölf Jahren, dann Gras, Speed, Kokain, mit 14 erstmals Heroin, ein paar Jahre später Jugendhaft wegen Dealens. Immer wieder Substitution, Entzug, Rückfall, Substitution, Entzug, Rückfall, Substitution. Als Weigel wegen Diebstahls ins Gefängnis kommt, warnt ihn sein Zellengenosse: "Du kriegst hier nichts." Er behält recht.

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Experten sehen Sucht heute als chronische Krankheit. Im Fall von Heroin gilt die Substitution als die beste Therapie: 77 000 Menschen, etwa die Hälfte aller Opiatsüchtigen, nehmen in Deutschland unter ärztlicher Aufsicht Heroin-Ersatzstoffe wie Methadon. "Opiatabhängigkeit entsteht meistens aus einer anderen psychischen Erkrankung heraus", sagt Markus Backmund, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin.

Dass ein Heroinsüchtiger dauerhaft ganz von Drogen wegkommt, ist daher selten - erst recht, wenn sich die Lebensumstände und die Ursachen für seine Sucht nicht ändern. Die Substitution heilt die Sucht zwar auch nicht, viele Substituierte nehmen neben den Ersatzstoffen weiter andere Drogen, manche verkaufen die verschriebenen Mittel am Schwarzmarkt weiter. Aber eine Langzeitstudie fand beim Großteil der Substitutionspatienten einen "positiven Verlauf": Der Anteil der Berufstätigen stieg, Drogenkonsum und Drogenkriminalität gingen zurück.

20 bis 30 Prozent aller Häftlinge sollen heroinsüchtig sein

Diese Erkenntnisse sind allerdings noch nicht überall angekommen. Die bayerische Justiz hat in den vergangenen Jahren mehrmals Substitutionsärzte angeklagt, und in einem Urteil des Münchner Oberlandesgerichts von 2012 heißt es über einen Süchtigen, er sei "nicht krank", sondern "vielmehr massiv drogenabhängig".

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Für Süchtige in bayerischen Gefängnissen hat diese Einstellung drastische Auswirkungen. 11 000 Häftlinge gab es Ende 2015 in Bayern, etwa 2200 bis 3300 davon dürften heroinsüchtig sein. Sie sitzen meist kurze Strafen wegen Drogendelikten oder Diebstählen ab. Rechtlich steht ihnen in Haft dieselbe medizinische Behandlung zu, die sie in Freiheit bekommen würden. Und die Bundesärztekammer schreibt in ihren Richtlinien zur Substitution, dass in Haft "die Kontinuität der Behandlung sicherzustellen" ist.

Trotzdem gab es Ende 2015 in den bayerischen Gefängnissen nur 45 substituierte Gefangene, wie eine Sprecherin des Justizministeriums auf Anfrage der SZ schreibt. 45 von 11 000, das sind 0,4 Prozent. Zum Vergleich: In Berlin wurden 2015 etwa vier Prozent aller Häftlinge substituiert. In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen dürften es um die zehn Prozent sein, in Bremen um die 20. Dazu kommt: Die Bayern zählen offenbar, anders als etwa die Berliner, nicht nur dauerhaft substituierte Häftlinge mit, sondern auch all jene, die kurzfristig als Hilfe beim Entzug Substitutionsmittel bekommen.

Markus Weigel, der wie alle beschriebenen Süchtigen in Wirklichkeit anders heißt, nahm vor der Haft neben seinem Methadon auch Beruhigungsmittel, sogenannte Benzodiazepine. Deshalb wäre er wohl auch in anderen Bundesländern nicht nahtlos weitersubstituiert worden. Man hätte die Medikamente dort wohl behutsam über Wochen oder Monate herunterdosiert.

Und in Bayern? "Ich hab nichts bekommen, gar nichts", sagt Weigel. Vom ersten Tag an nichts. Kalter Entzug. "Als ich gefragt hab, ob ich wenigstens was zur Beruhigung haben kann, zum Schlafen, hat's geheißen: Da musst du einen Termin beim Psychologen ausmachen, das dauert zwei bis drei Wochen." Da lag er also, zitternd, schwitzend, kotzend, mit Schmerzen und epileptischen Anfällen, tagelang.

Karlheinz Keppler ist Anstaltsarzt im niedersächsischen Frauengefängnis Vechta und Mitherausgeber des Lehrbuchs "Gefängnismedizin". Erzählt man ihm von Weigels Beschreibungen, ist er erst mal sicher, dass man da etwas falsch verstanden haben muss. Unfreiwilliger kalter Entzug "geht gar nicht", sagt Keppler. Seine Stimme geht hoch, er klingt fassungslos: "Wenn das wirklich so ist, wäre das ein Skandal. Dann wären die Kollegen reif für eine Anzeige wegen Körperverletzung durch Unterlassung."

Heroinabhängige dramatisieren gern, gibt Keppler zu bedenken. Aber Weigels Schilderung passt zu dem, was andere Ex-Häftlinge berichten. Etwa Paul Bruns. Er spritzte seit den frühen Siebzigerjahren Heroin, steckte sich mit HIV und Hepatitis C an, wurde deshalb Anfang der Neunziger als einer der ersten Menschen in Deutschland ins Substitutionsprogramm aufgenommen. 17 Jahre lang nahm er Methadon, dann landete er im Gefängnis - und bekam, so erzählt er es jedenfalls, vom ersten Tag an nichts mehr bis auf ein paar Tropfen Valium.

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Mit Unterstützung der Deutschen Aids-Hilfe klagte Bruns auf das Recht auf Substitution in Haft. Heute ist er wieder in Freiheit und substituiert, sein Verfahren liegt inzwischen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Dass die Klage dort überhaupt angenommen wurde, ist schon ein Zeichen: Der EGMR weist die meisten Klagen von vornherein zurück.

Das drogenfreie Gefängnis ist eine Illusion

In einer Umfrage der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in München unter 195 Süchtigen, die zwischen 2010 und 2012 aus bayerischen Gefängnissen entlassen wurden, gaben nur acht Prozent an, drinnen "warm" entgiftet zu haben, also mithilfe von Substitutionsmitteln. 14 Prozent hatten andere Medikamente bekommen, mehr als drei Viertel gar nichts. Vom bayerischen Justizministerium heißt es auf Anfrage nur, der Entzug erfolge "gemäß den Regeln der ärztlichen Kunst und gemäß den hierzu geltenden Richtlinien", die individuelle Entscheidung treffe der jeweilige Anstaltsarzt. Eine klare Absage an den kalten Entzug ist das nicht.

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Das Motto der bayerischen Justiz bei Sucht: Die Junkies haben im Gefängnis die einmalige Chance, clean zu werden, und die sollen sie gefälligst nutzen. Körperlich funktioniert das in vielen Fällen auch erst einmal. Aber wie jeder Ex-Raucher weiß, ist eine Sucht mit dem körperlichen Entzug nicht abgehakt. Der Suchtdruck bleibt bestehen. Und das drogenfreie Gefängnis ist eine Illusion - das sagen alle, die es wissen müssen. Drinnen ist es schwerer als draußen, an Drogen heranzukommen. Und teurer, viel teurer. Aber es geht.

Markus Weigel hat zum Gespräch seinen Freund Andreas Wolf mitgebracht, einen schmächtigen Mann, der ständig in Bewegung ist und dessen Kopf und Hände zu groß für seinen Körper zu sein scheinen. Auch er ist heroinsüchtig, auch er wurde vor Kurzem aus der Haft entlassen. "Da drinnen", sagt Wolf, "dreht sich tagtäglich alles nur um Gift." Und er erzählt von einem Anstaltsarzt, der auf die Bitte nach einem Medikament geantwortet habe: "Ja mei, geh doch in den Hof und kauf dir ein Päckchen."

Viele Junkies rutschen gleich nach der Entlassung wieder in die Beschaffungskriminalität ab

Anders als manche Mithäftlinge habe er Drogen in Haft immer geschluckt oder geschnupft, sagt Weigel. "Die Spritzen gehen da drinnen durch zehntausend Hände, da ist mir die Ansteckungsgefahr zu groß." Etwa jeder sechste Gefangene in Deutschland hat Hepatitis C, jeder hundertste ist HIV-infiziert.

Studien zufolge geht es Süchtigen in Haft nicht nur persönlich besser, wenn sie substituiert sind. Sie können auch eher arbeiten und machen weniger Probleme. "Substitutionsmedikamente sind nicht teuer", sagt der niedersächsische Gefängnisdirektor Karlheinz Keppler, "und in einem Gefängnis, in dem substituiert wird, gibt es weniger Drogenhandel und weniger Gewalt."

Als Markus Weigel im Winter aus dem Gefängnis entlassen wird, hat er keine Wohnung, keinen Job, keinen Therapieplatz, keine Perspektive. Es dauert nur Stunden, bis er sich im Zimmer einer alten Bekannten aus der Szene den ersten Schuss setzt. Nach drei Wochen geht er zum Arzt und lässt sich erneut ins Substitutionsprogramm aufnehmen.

Wie er in der Zwischenzeit seinen Konsum finanzierte, ob auf legale oder illegale Art, sagt Weigel nicht. Viele Junkies rutschen direkt nach der Entlassung wieder in die Beschaffungskriminalität ab, sie dealen, stehlen, brechen ein. Andere überleben dafür nicht lange genug: Das Risiko, an einer Drogenüberdosis zu sterben, ist nie so hoch wie kurz nach der Haftentlassung. Substitution senke das Risiko einer Überdosis, ein Entzug von Methadon erhöhe es, heißt es in einer Studie der Weltgesundheitsorganisation. Dass Bayern seit Jahren unter allen Flächenländern die meisten Drogentoten pro Einwohner hat, hat wohl auch mit der fehlenden Substitution in Haft zu tun.

Es gibt offiziell keine Vorgabe - die Anstaltsärzte sind sich trotzdem einig

Das bayerische Justizministerium beruft sich beim Thema Drogentherapie grundsätzlich auf die Behandlungsfreiheit und die "individuelle Beurteilung der Anstaltsärzte": Ein Arzt kann nicht dazu gezwungen werden, eine Behandlung durchzuführen, die er nicht für sinnvoll hält. "Aber die Behandlungsfreiheit entbindet die Justiz nicht von ihrer Verantwortung", sagt Marc Lehmann, der ärztliche Leiter des Justizvollzugskrankenhauses in Berlin. "Ein Arzt darf für sich sagen, ich kann die Substitution grundsätzlich nicht vertreten - aber dann muss die Justiz die gebotene Versorgung sicherstellen, zum Beispiel indem sie den Patienten in eine andere Anstalt verlegt."

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Die Anstaltsärzte der 36 bayerischen Justizvollzugsanstalten scheinen sich allerdings ziemlich einig zu sein in ihrer Ablehnung der Substitution. Zufall? Es gebe keine diesbezügliche Vorgabe des Justizministeriums an die Gefängnisse, schreibt die Ministeriumssprecherin. Die Justiz unternehme viel, "um ein bedarfsgerechtes Substitutionsangebot sicherzustellen".

Viele Experten vermuten trotzdem, dass die Marschrichtung vom Ministerium vorgegeben wird, aus Angst vor "Der Staat als Dealer"-Schlagzeilen im Boulevard und aus ideologischen Gründen. Öffentlich will das aber kaum jemand aussprechen.

Einer tut es dann doch: Thomas Galli, seit 2013 Leiter der sächsischen JVA Zeithain. Viele bayerische Anstaltsärzte hielten Substitution durchaus für sinnvoll, sagt Galli, aber: "Es gibt Vorgaben von oben, dass keine Substitution stattfinden soll." Galli dürfte wissen, wovon er spricht. Er hat mehr als zehn Jahre lang in den bayerischen Gefängnissen Amberg und Straubing gearbeitet.

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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