Justiz:Bayern sucht dringend Sozialrechtler

  • In Bayern gibt es zu wenige Sozialrechtler. Angehende Juristen interessieren sich vor allem für das Straf- und Gesellschaftsrecht.
  • Das Problem ist, dass Sozialrecht weder nach dem Studium in der Ersten Juristischen Prüfung noch im Examen nach dem Referendariat Pflicht ist.
  • Am Landessozialgericht und den sieben Gerichten in den Regierungsbezirken fürchtet man deshalb schon, nicht mehr genügend Richter zu finden.

Von Anna Günther

Die wenigsten Bayern erleben jemals einen Strafprozess als Täter oder Opfer mit - das zeigt ein Blick in die Kriminalitätsstatistik. Renten, Kindergeld, Krankenversicherung und andere Sozialleistungen dagegen betreffen quasi alle. Die Juristenausbildung aber spiegelt das nicht wider, beklagen Sozialrechtler und fürchten einen gravierenden Nachwuchsmangel mit Folgen für die Sozialgerichte und alle, die bei Streitigkeiten um Sozialleistungen Hilfe eines Anwalts brauchen. Hört man sich um, erzählen Richter von Verhandlungen, in denen sie die Unwissenheit der Anwälte schockiert.

Das Problem ist, dass Sozialrecht weder nach dem Studium in der Ersten Juristischen Prüfung noch im Examen nach dem Referendariat Pflichtstoff ist. Zwar können Jurastudenten seit 2005 einen Schwerpunkt wählen, um sich zu spezialisieren. Die meisten aber gehen strategisch vor und wählen einen Bereich, der in den Prüfungen abgefragt wird. Gesellschaftsrecht gilt unter Studenten als sexy, weil es Türen zu Unternehmen und entsprechenden Gehältern öffnet.

Sozialrecht empfinden die meisten als zu aufwendig, kompliziert und auch wegen des enormen Beratungsbedarfs wenig einträglich. Dieses Gebiet werde von Idealisten belegt, die nach sieben Jahren Pauken kein Problem damit haben, sich auch noch in die zwölf Bücher des Sozialgesetzbuchs einzuarbeiten, sagen erfahrene Sozialrechtler. Die Besten eines Jahrgangs, die sich ihre Jobs aussuchen können, gehen selten in diese Richtung.

Am Landessozialgericht und den sieben Gerichten in den Regierungsbezirken fürchtet man deshalb schon, nicht mehr genügend Richter zu finden. Zwar werden Richter als Staatsangestellte einheitlich bezahlt, aber von denjenigen, die ein sogenanntes Prädikatsexamen schaffen, wollen nur wenige an die Sozialgerichte. "Wir müssen richtig Werbung machen für diese Jobs", sagt eine Richterin.

"Die Leute, die gut genug sind, tun sich das nicht an", bestätigt Thorsten Kingreen, der an der Uni Regensburg den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht leitet. Wenn er Absolventen hat, die gut genug sind, gebe es in Bayern noch ein Spezial-Problem: Bevor Juristen an die Sozialgerichte dürfen, müssen sie einige Jahre im Sozialministerium arbeiten. Alle Seiten kennenzulernen, sei sinnvoll und im Ministerium könne man das Sozialrecht auch "schmackhaft machen", sagt Kingreen, aber vielen sehr Guten sei das zu umständlich.

"Wir sind eine aussterbende Rasse"

Erst kürzlich sei eine seiner Studentinnen lieber in ein anderes Bundesland gegangen. Der größte Nachwuchsbedarf besteht laut Kingreen bei Anwälten. Er bekomme alle vier Wochen Anfragen nach Studenten, die zumindest "schon ein bisschen Grundahnung von Sozialrecht haben", sagt er. Hat er aber nicht. Seine angehenden Juristen müssen noch ins Referendariat. "Und da gehen uns die Interessierten dann verloren." Also stellten Kanzleien immer öfter Juristen ab, die sich erst einarbeiten müssen. Aber auch Verbände, Versicherungen und Krankenhäuser bräuchten versierte Sozialrechtler. Die fehlten sogar an den Lehrstühlen der Unis, für Kingreen "eine Zeitbombe".

Wer sich nach der Uni doch noch für Sozialrecht entscheidet, muss sich fortbilden. Aber auch dort schwindet das Interesse. "Wir sind eine aussterbende Rasse", sagt Reinhard Holterman, der in München eine Kanzlei für Sozialrecht betreibt. Seit Jahrzehnten bildet er für den Deutschen Anwaltsverein und die Rechtsanwaltskammern Fachanwälte aus. "Aber ich kann mich nicht erinnern, wann in München der letzte Fachanwalt für Sozialrecht zugelassen wurde.

Das ist bestimmt schon sechs bis sieben Jahre her", sagt Holterman. In diesem Jahr wurden beide Kurse wegen zu geringem Interesse abgesagt. Wieso der Fachanwalt für Sozialrecht unbeliebt ist, kann er sich nicht erklären. Das Aufgabenspektrum wachse doch ständig, die Sozialgerichte sind zum Beispiel auch für Asylleistungen zuständig.

Das Argument, mit Sozialrecht lasse sich kein Geld verdienen, lassen Kingreen und Holterman nicht gelten: Fachanwälte können höhere Honorare verlangen und wer eine sinnvolle Mischung von Mandanten hat, könne gut leben, sagt Holterman. Außerdem brauchten auch Versicherer Sozialrechtler, sagt Kingreen. "Der Haushalt der Rentenversicherung ist größer als der Bundeshaushalt. Das sind Milliarden."

Kingreen und Elisabeth Mette, die Präsidentin des Landessozialgerichts, wollen, dass Sozialrecht zur Pflicht in der Juristenausbildung wird. Im Sozialministerium hat man das Problem erkannt, Staatssekretär Johannes Hintersberger fordert eine Änderung der Ausbildung. Nur, das Justizministerium ist für die Ausbildungs- und Prüfungsordnung der Juristen zuständig, das Kultusministerium für Hochschulen. Bis sich die Ministerien einigen, kann es dauern. Druck will Hintersberger nicht machen, er vertraut auf eine Arbeitsgruppe: Fachleute müssten entscheiden, ob es sinnvoller sei, Sozialrecht im Studium oder im Referendariat zu stärken, sagt er. Hauptsache, "Juristen bekommen Kontakt".

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