Attentat von Würzburg:Wo die Fürsorge für jugendliche Flüchtlinge an ihre Grenzen stößt

Migrants Arrive Daily In Southern Germany

Unter den Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kamen, wie hier an der Grenze bei Neuhaus am Inn, dürften 25 000 bis 35 000 unbegleitete Minderjährige sein.

(Foto: Getty Images)

Je stärker ein junger Flüchtling unterstützt wird, desto besser für alle. Das klingt einfach. Ein Fall wie in Würzburg zeigt: Die Realität ist viel komplizierter.

Von Bernd Kastner

Um keine andere Flüchtlingsgruppe kümmert sich der deutsche Staat, ja, die ganze Gesellschaft so intensiv wie um Jugendliche, die ohne ihre Eltern nach Deutschland gekommen sind. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, in der Szene der Asylhelfer kurz UmF genannt, haben eine vergleichsweise starke Lobby und genießen denselben Anspruch auf Hilfe wie Deutsche, die etwa aus einer problematischen Familie herausgenommen werden.

Zumindest auf dem Papier gibt es keinen Unterschied zwischen einem afghanischen Jugendlichen und einem deutschen. Schaut man jedoch genauer hin, werden Defizite sichtbar, in der Betreuung ebenso wie in der Therapie psychisch kranker Flüchtlinge. Dabei ist beides wichtig, um einer politischen Radikalisierung vorzubeugen - oder sie zumindest rechtzeitig zu erkennen.

25 000 bis 35 000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge dürften im vergangenen Jahr in Deutschland angekommen sein, etwa 60 000 Jugendliche und junge Volljährige werden derzeit von der Jugendhilfe versorgt, schätzt man beim Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Bumf). Die zentrale Rolle in der Fürsorge für diese Gruppe nehmen die Jugendämter der Kommunen und Landkreise ein. Jenes Amt, in dessen Gebiet ein jugendlicher Flüchtling aufgegriffen wird - egal, ob er von der Polizei entdeckt wurde oder sich selbst gemeldet hat -, ist zunächst für ihn zuständig.

Weil nach diesem Prinzip die Jugendämter in München, Rosenheim, Passau und Aachen zusammenzubrechen drohten, werden seit November 2015 die ankommenden UmF bundesweit verteilt, meist von Süden nach Norden. Nach wenigen Tagen werden sie an das endgültig zuständige Jugendamt geschickt, das sie dann in einem Heim oder einer Wohngruppe unterbringt, meist betrieben von karitativen Organisationen. In Ausnahmefällen sucht das Amt eine Pflegefamilie.

Mancher Amtsvormund ist für 80 und mehr Flüchtlingskinder zuständig

Es gebe große regionale Unterschiede bei den Heimen, sagt Ulrike Schwarz vom Bumf. Regionen, in die bisher kaum junge Flüchtlinge kamen, müssen sich erst auf die neue Gruppe einstellen. Dazu gehöre, an vermeintlich Banales wie einen Internetanschluss zu denken. Ohne einen solchen seien die Flüchtlinge von der Kommunikation mit der Familie in der Heimat abgeschnitten - "das ist ein Albtraum".

Jeder UmF bekommt einen Vormund zugewiesen. Oft ist es ein sogenannter Amtsvormund, der diese Aufgabe hauptamtlich ausübt. Eigentlich dürfte er maximal 50 Mündel betreuen, erklärt Ulrike Schwarz. Dass sich bei dieser Konstellation kein enger Kontakt entwickeln kann, ist offensichtlich. Erst recht, wenn ein Vormund für 80 oder gar 100 jungen Flüchtlingen formal die Eltern ersetzen soll, auch das komme immer wieder vor.

Also seien es in der Regel die Betreuer in den Einrichtungen, die den engsten Kontakt haben. Sie bekämen am ehesten mit, was die Geflohenen umtreibt. Dabei, sagt Schwarz, sei es mitunter schwer, Grenzen zu erkennen: Wann ist ein muslimischer Flüchtling streng religiös? Und wann beginnt er sich zu radikalisieren?

Florian Endres appelliert an die Betreuer, im Zweifel lieber einmal zu viel als einmal zu wenig bei ihm und seinen Leuten in Nürnberg anzurufen. Er leitet im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Beratungsstelle Radikalisierung, die mit zahlreichen Vereinen und Organisationen kooperiert. Gemeinsam hätten sie knapp 1200 Fälle seit 2012 betreut, darunter etwa 70 minderjährige Flüchtlinge. Dieser geringe Anteil wachse seit vergangenem Jahr spürbar.

Wie sich eine Radikalisierung erkennen lässt

Erkennen lasse sich eine mögliche Radikalisierung zunächst an Äußerlichkeiten, an der Kleidung etwa oder am Bart. Entscheidend aber sei, sagt Endres, die innere Einstellung: wenn Religion "plötzlich das Nonplusultra ist", wenn einer über Ungläubige herziehe oder weibliche Betreuer meide. Sind die Experten einmal eingebunden, versuchen sie, Zugang zum sozialen Umfeld des Radikalisierten zu bekommen, um seinen Weg ins Extreme zu stoppen. In etwa jedem vierten aller bearbeiteten knapp 1200 Fälle habe man auch die Sicherheitsbehörden eingeschaltet.

Kein anderes deutsches Jugendamt hat in den vergangenen Jahren mehr Flüchtlinge in Obhut genommen als das in München: fast 5000 allein im vergangenen Jahr. Derzeit kämen pro Woche noch 15 bis 30 neu in München an, sagt Vizechef Markus Schön. Und ja, es gebe in Deutschland noch Defizite auszugleichen in der Jugendhilfe, im Umgang mit bereits Radikalisierten: "Es gibt noch zu wenige Einrichtungen, die mit dieser Gruppe umzugehen wissen. Es gibt große Vorbehalte, sie aufzunehmen", sagt er und weist zugleich auf die Grenzen des Machbaren hin: "Ich kann nie völlig ausschließen, dass sich ein junger Flüchtling radikalisiert, das kann man mit der besten pädagogischen Arbeit nicht."

Mindestens die Hälfte der Jugendlichen kommt in Deutschland traumatisiert an

Deutlich minimieren aber lässt sich die Gefahr - auch durch therapeutische Hilfe. Fachleute schätzen, dass mindestens die Hälfte der minderjährigen Geflohenen traumatisiert in Deutschland ankommt. Psychische Probleme und politische Gesinnung - manchmal geht beides ineinander über bei einem jungen Menschen, der nach schrecklichen Erlebnissen in der Heimat oder auf der Flucht sich in Deutschland zurechtfinden soll, einem völlig fremden Land.

Viele von ihnen landen bei Refugio in München, einem Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer. Dessen Chef, Jürgen Soyer, weiß von verunsicherten Klienten zu berichten, die nicht nur mit dem Erlebten zu kämpfen haben, sondern sich auch Fragen stellen: Wo stehe ich in dieser Gesellschaft? Wo finde ich Halt? Es sei ein Prozess des Suchens, typisch für dieses Alter, egal, welchen Hintergrund die Jugendlichen hätten.

"Eine gute Betreuung in der Jugendhilfe trägt viel bei zur Stabilisierung", sagt Soyer und lobt, dass seit ein paar Jahren auch 15- und 16-Jährige ins Hilfesystem integriert sind - früher wurden sie wie Erwachsene behandelt. Der nächste Schritt ist bei vielen eine Psychotherapie. Und die kann, zugespitzt formuliert, auch eine Art Polit-Therapie sein, um einer Radikalisierung vorzubeugen. Das Gespräch mit dem Therapeuten sei eine gute Gelegenheit, Gedanken zu äußern, die man sonst für sich behalte, sagt Soyer.

Da seien oft extreme Gedanken darunter, das kann der an einen Suizid sein, das kann der an die Lockungen von Extremisten sein. "Das kann man gut integrieren in eine Therapie", sagt Soyer. Solche Gespräche hätten "immer auch eine politische Dimension".

Je stärker ein junger Flüchtling gestützt werde, desto besser für alle, für seine Gesundheit und für die Sicherheit der Gesellschaft. Allein, die Politik habe dies noch immer nicht realisiert, beklagt Soyer. Dabei gehe es gar nicht mal so sehr ums Geld, so hoch seien die Zahlen der betroffenen Jugendlichen gar nicht. Oft scheitere eine adäquate Hilfe an der Bürokratie. Wenn ein Therapeut wegen komplizierter Anträge am Ende kein Honorar bekomme, sinke die Bereitschaft der Ärzte und Psychologen weiter, sich auf diese schwierige Patientengruppe einzulassen.

Schon die Sprache mache die Arbeit schwierig, kaum eine Therapiesitzung ohne Dolmetscher. Soyer wünscht sich einen deutlich einfacheren Weg in die Therapie. Aber: "Da kann man Sturm laufen, es fehlt der politische Wille, etwas zu verändern."

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