Süddeutsche Zeitung

Nationalpark an tschechischer Grenze:Ein bayerischer Urwald

Die Natur Natur sein lassen: Auf 1200 Metern Höhe, im Grenzgebiet zwischen den Nationalparken Bayerischer Wald und Sumava, liegt der "Judenwald" - er ist einzigartig, seit mehr als 100 Jahren.

Von Christian Sebald

Was für üppige Bergfichten: Schon unten am Wurzelstock der vielleicht 15 oder 18 Meter hohen Bäume beginnt das weit ausladende Astwerk. Es reiht sich dicht an dicht hinauf in die Wipfel. Dadurch sehen oft gut hundert Jahre alten Bäume aus wie riesige, grüne Kegel - ganz anders als die Fichten in gewöhnlichen Forsten, deren Stämme meist zu zwei Dritteln astlos sind. Die urwüchsigen Bergfichten stehen auf einem abgeschiedenen Hochplateau im Grenzgebiet zwischen den Nationalparken Bayerischer Wald und Sumava. Der Wald, der gut drei Kilometer Luftlinie nordöstlich vom Großen Arber liegt, heißt "Judenwald".

Viele Fichten hier sind majestätische Solitäre. Andere bilden kleine Trupps oder ballen sich zu einem schier undurchdringlichen Dickicht zusammen. Das Grün wird immer wieder unterbrochen von weitläufigen herbstbraunen Grasflächen und borstigem Beerengestrüpp. Die Landschaft erinnert an einen völlig verwilderten Park. Zumal ab und an ein Vogelbeerbaum rot aufleuchtet. Die Vogelbeere ist außer der Fichte die einzige Baumart, die in dem rauen Klima hier oben auf ungefähr 1200 Metern Höhe gedeiht.

Mitten im Judenwald stehen Franz Leibl und Pavel Hubený. Leibl, 61 und Biologe, ist Chef des Nationalparks Bayerischer Wald. Hubený, 55 und Geograf, leitet den Nationalpark Sumava, der sich direkt an den Nationalpark Bayerischer Wald anschließt und doppelt so groß ist wie dieser. "Der Judenwald ist das Fenster in die Zukunft unserer beiden Nationalparke", sagt Hubený. "Abgesehen von einigen, kleinen Eingriffen ist der Judenwald ist seit mehr als hundert Jahren praktisch sich selbst überlassen worden, der Wald hier ist von der Natur geformt worden. Drei Viertel der Fichten hier sind gewachsen, ohne dass ein Förster irgendetwas dazu getan hat."

Die Natur Natur sein lassen: Das ist der Nationalpark-Grundsatz. Wenn hier heftige Stürme über die Wälder hinwegtoben und Zigtausende Bäume umwerfen, wenn sich Schädlinge über die Wälder hermachen, greift kein Förster ein und auch niemand sonst. Stattdessen soll die Natur den neuen Wald formen. Getreu diesem Grundsatz entstehen seit bald 40 Jahren aus den vormaligen Wirtschaftswäldern im Nationalpark Bayerischer Wald junge Urwälder.

Der Nationalpark Sumava ist 21 Jahre nach dem Nationalpark Bayerischer Wald eingerichtet worden. In seinen Kernzonen kann man ebenfalls schon gut erkennen, wie ein junger Urwald heranwächst, wenn der Mensch die Natur machen lässt. Der Judenwald ist der einzige Wald in den beiden Nationalparken, der schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem Grundsatz "Natur Natur sein lassen" entstanden ist - und damit gut hundert Jahre älter ist, als es die beiden Nationalparke sind.

Freilich waren sich die damaligen Förster nicht bewusst, welcher Wald da entsteht."Dass der Judenwald heute so urwüchsig dasteht, liegt an seiner besonderen Historie", sagt Hubený. Der Judenwald, der seinen Namen daher hat, dass ihn in den Jahren ab 1840 der Regensburger Holzhändler Simon Maier Loewi erworben hat, wurde - wie so viele Wälder im Böhmerwald Mitte des 19. Jahrhunderts - komplett abgeholzt. Die Stämme wurden als Baustoff und Brennmaterial verkauft. "Anschließend wurde die Kahlfläche als Weideland genutzt", sagt Hubený, "auch wenn die damaligen Behörden das eigentlich untersagt hatten, weil sie wieder einen Wald haben wollten."

Ab 1910 stoppten die Behörden die Beweidung und ordneten die Aufforstung an. "Die Anpflanzungen kamen aber nicht wirklich voran", sagt Hubený. "Sie wurden alsbald eingestellt." Gleichwohl bildete sich allmählich der urwüchsige Fichtenwald heraus, der heute das Hochplateau prägt. Hubený und seine Experten haben vor einiger Zeit die Bergfichten auf ihre Herkünfte untersuchen lassen. Das Ergebnis: Nur 25 Prozent der Fichten sind Bäume aus den Aufforstungen nach 1910. Die übrigen 75 Prozent stammen von wenigen alten Fichten aus der direkten Umgebung ab, die bei den Fällaktionen Mitte des 19. Jahrhunderts verschont wurden. Die Samen aus ihren Zapfen hat der Wind über die Fläche verteilt. Experten nennen das natürliche Verjüngung.

Die natürliche Verjüngung ist nur der eine Grund, warum dieser Wald ein bereits gut hundert Jahre alter Urwald ist. Der andere ist, dass seit seiner Abholzung Mitte des 19. Jahrhunderts praktisch keine Forstwirtschaft mehr in dem Gebiet betrieben worden ist. Zunächst, weil auf der abgeholzten Fläche Nutztiere grasten. Dann, weil sie aufgeforstet werden sollte. Und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, weil der Judenwald direkt an der Grenze zwischen der damaligen CSSR und der BRD lag, in deren Umfeld außer Grenztruppen niemand hineindurfte.

Noch heute erkennt man die Überreste einer vormaligen Fahrstraße für die Grenztruppen. Und am Bärenfelsen, einem mächtigen Granitblock in seiner Mitte, hängt noch eine verwitterte Gedenktafel für einen Grenzsoldaten, der hier 1965 ums Leben gekommen ist. Seit 2007 zählt der Judenwald zur Kernzone des Nationalparks Sumava. Damit die Natur hier auch in Zukunft völlig ungestört bleibt, dürfen weder Ausflügler noch Wanderer oder Radfahrer hinein.

Heute ist der Wald ein Refugium für das Auerhuhn. Die scheuen Vögel sind sehr selten und vom Aussterben bedroht. Sie brauchen so urtümliche und lichte Bergwälder als Lebensraum, doch solche Wälder gibt es außerhalb von Nationalparken kaum noch. Die dunkelgrau-braun gefiederten Auerhähne sind besonders auffällig - allein schon deshalb, weil sie bis zu fünf Kilo schwer und einen Meter groß werden und außerdem 90 Zentimeter Flügelspannweite haben. Männchen und Weibchen weisen beiderseits über den Augen eine nackte, markant rote Hautstelle auf, die sogenannte Rose. Die Weibchen sind nicht nur sehr viel kleiner als die Männchen. Ihr Gefieder ist auch deutlich heller.

In den urwüchsigen Wäldern der beiden benachbarten Nationalparke leben inzwischen 400 Auerhühner. "Rechnet man noch die anderen 200 dazu, die im unmittelbaren Umfeld der Nationalparke zum Beispiel am Osser, am Arber und am Dreisessel leben, dann haben wir hier im Bayerischen Wald und im Sumava endlich wieder eine stabile, langfristig überlebensfähige Population erreicht", sagt der Biologe und Auerhuhn-Spezialist Leibl. "Die einzige übrigens in ganz in Mitteleuropa außerhalb der Alpen."

An diesem sonnigen Herbsttag lässt sich allerdings kein einziges Auerhuhn blicken. Dafür ist die Luft voll vom Tschilpen der Erlenzeisige. Dazwischen kann man immer wieder das harte "Gip Gip Gip" des Fichtenkreuzschnabels hören. Beide Vogelarten sind in Fichtenwäldern sehr häufig. Beim weit verbreiteten Fichtenkreuzschnabel ist der Name Programm. Der Schnabel der rötlich oder gelb-orange gefiederten Vögel ist scharf nach unten gebogen, die Ober- und Unterseite überkreuzen sich. Hauptnahrung der Vögel sind Fichtensamen. Mit den gekreuzten Schnäbeln picken die Vögel die winzigen Samen einen nach dem anderen blitzschnell aus den Zapfen heraus.

Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, "ein Münchner Jude" habe jenes böhmische Waldgebiet ("Judenwald") am Rachel 1847 erworben und abgeholt. Die beiden Nationalpark-Leiter hatten das im Gespräch so dargestellt. Ein aufmerksamer Leser hat uns auf Dokumente unter anderem im Archiv des Glasmuseums Frauenau hingewiesen, denen zufolge der Regensburger Holzhändler Simon Maier Loewi jenen Wald kaufte, den Abtransport in größerem Stil organisierte (Holztrift) und dann komplett abholzen ließ.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4194375
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 03.11.2018/soy/cck
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.