100 Jahre Freistaat:Wunderkammer Bayern

Alling: 20 Jahre Allinger Blaskapelle

Der Himmel über Bayern: Weiß-blau ist er vermutlich auch anderswo, nach Meinung vieler Einheimischer aber sicher nicht so schön.

(Foto: Johannes Simon; Bearbeitung SZ)

War Bayern immer schon so? Nein. Napoleon zwang die Bayern, sich eine moderne Verfassung zu geben, und der Sozialist Kurt Eisner rief 1918 den "Freistaat" aus. Das konservative Image kam erst später.

Essay von Hermann Unterstöger

Grillparzer lässt in seinem Trauerspiel "König Ottokars Glück und Ende" einmal einen anderen Ottokar auftreten, nämlich Ottokar von Horneck. Es ist dessen einziger Auftritt, aber was für einer! Ergreifender hat man Österreich nie gepriesen, und besonders die Stelle, die auf seiner Bürger klaren Blick und offenen Sinn Bezug nimmt, ist sprichwörtlich geworden: "Da tritt der Österreicher hin vor jeden,/ Denkt sich sein Teil und lässt die andern reden!" Der Bayer als solcher fühlt sich da landsmannschaftlich mitgemeint, und wenn er auch oft für ruhmrednerisch, ja prahlerisch angesehen wird, so genießt er es doch auch, wenn andere ihn loben.

In der Zeit fand sich vor Jahr und Tag einmal ein Text zur größeren Ehre Bayerns, der auf launige Weise herausstrich, was die Bayern den Restdeutschen voraushaben: bessere Prunkbauten, besseres Wetter, bessere Berge, bessere Trachten und so fort. Selbst wenn es nicht so gemeint war, deckte sich das im Kern mit dem, was die Bayern in die Formel "Mia san mia" packen und wofür Festredner gern die These heranziehen, wonach es außerhalb Bayerns kein oder jedenfalls kein gleichwertiges Leben gebe: "Extra Bavariam non est vita, et si est vita, non est ita." Kritiker halten das für engherzig (und für mäßiges Latein obendrein); der Bayer denkt sich auch dazu sein Teil und lässt sie reden.

100 Jahre Freistaat Bayern

Diese Woche widmen wir uns der Geschichte des Freistaats Bayern, den Kurt Eisner am 8. November 1918 in München ausgerufen hat. Vom 29. April bis zum 6. Mai finden Sie jeden Tag um 19 Uhr eine neue Folge auf SZ.de. Alle Texte finden Sie auf dieser Seite.

Nun ist es ja nicht so, dass er mit leeren Händen dastünde. Der Fundus bayerischer Reichtümer, seien sie naturgegeben oder wohlerworben, ist eine echte Schatz- und Wunderkammer, und wenn man, um nur zwei Eckpfeiler herauszugreifen, den Bogen von der Weißwurst zur Wieskirche zieht, bekommt man einen handfesten, um nicht zu sagen belastbaren Begriff von der Fülle des Verfügbaren.

Seltsamerweise spielt unter all diesen Preziosen eine einzige fast keine Rolle, zumindest keine solche, wie Laptop und Lederhose, wie Zwiefacher und Marienverehrung, wie Karl Valentin und der FC Bayern sie spielen. Es handelt sich um die bayerische Verfassung, zu der man allenfalls am späten Stammtisch hören kann, dass sie die älteste der Welt sei - was aber verdächtig nach der althergebrachten Prahlerei klingt, wir Bayern hätten schon Lateinisch gekonnt, als andere, insbesondere die Preußen, noch in den Bäumen saßen.

Das Doppeljubiläum "100 Jahre Freistaat und 200 Jahre Verfassungsstaat Bayern" nennt Zeiträume, die sich sub specie aeternitatis wie Sekunden ausnehmen. Aus menschlicher Sicht sind es freilich beachtliche Epochen, und es wird, wie meist bei der Betrachtung beachtlicher Epochen, für Land und Leute viel Lob abfallen. Dagegen ist nichts zu sagen, schon gar nicht in einem Land und bei Leuten, die sich selbst gern und ausgiebig feiern. Was dem Jubiläum darüber hinaus innewohnt, ist die Chance, dass aus diesen zwei Jahrhunderten Verfassungsgeschichte, neben der schieren Belehrung, ein satter Gewinn an staats- und freistaatsbürgerlichem Bewusstsein erwächst.

Nimmt man's genau, dann muss man die bayerische Verfassungsgeschichte um zehn Jahre erweitern, da Maximilian Joseph von Montgelas bereits 1808 eine Konstitution vorlegte, die für Bayern, wie die Historikerin Katharina Weigand schreibt, "nichts weniger als die Zusammenfassung, die Kodifizierung einer von oben verordneten und durchgeführten gesellschaftspolitischen und verwaltungstechnischen Revolution" bedeutete.

Verfassungen fallen nicht vom Himmel. Sie bedürfen einer Zeit, die für sie reif ist, und jener Anstöße, ohne die selbst in vollreifen Zeiten nichts geschieht. Im Fall der bayerischen Verfassung war der große Anstoßgeber Napoleon, der den Bayern, seinen Verbündeten, nicht nur das Königtum beschert hatte. Die Rheinbundstaaten, zu denen auch Bayern gehörte, mussten seinerzeit damit rechnen, dass Napoleon den Rheinbund mittels einer Gesamtverfassung oder allgemein verbindlicher konstitutioneller Normen auf eine Linie zu bringen vorhabe, ein Schrecknis, dem man nicht anders glaubte beikommen zu können als mit schneller verwirklichten eigenen Verfassungen.

Kronprinz Ludwig, ein königlicher Idealist

Dieser Zwang brachte zehn Jahre nach der Montgelas'schen Konstitution die heuer zu feiernde Verfassung von 1818 hervor. Sie sei, ließ König Maximilian I. Joseph in die Präambel schreiben, "nach vorgegangener reifer und vielseitiger Berathung, und nach Vernehmung Unseres Staatsrathes das Werk Unseres ebenso freyen als festen Willens". Könige müssen so auftreten, aber wenn einer freien und festen Willen in das Werk investiert hatte, dann nicht der König, sondern sein Sohn, Kronprinz Ludwig, der ihm als Ludwig I. im hohen Amte nachfolgte.

Ludwig hat die Arbeit an der Verfassung mit Anmerkungen begleitet und sich für Forderungen starkgemacht, von denen er wusste, dass sie seine eigenen späteren Herrschaftsrechte beschneiden würden. Idealistisch, wie er war, schrieb er in sein Memorandum: "Wenn einmal seine Verfassung mit dem Bayer verwebt sein wird ( ... ), dann erst wird ihre Wirkung herrlich sich zeigen." Wie dieser Idealismus sich später zermürbte, weiß man aus der Geschichte, doch noch als Ludwig im März 1848 abdankte, sagte er in seiner Abschiedsbotschaft: "Treu der Verfassung regierte Ich; dem Wohle Meines Volkes war mein Leben geweiht ..."

Er habe, fuhr Ludwig fort, so gewissenhaft gearbeitet, "als wenn Ich eines Freistaates Beamter gewesen". Es taucht hier ein Begriff auf, von dem viele Bayern annehmen, er gehöre zum Fundus ihrer Stammesheiligtümer und stehe sowohl für ihr unbändiges Freiheitsstreben als auch für ihren Rang über "Deutschlands Bruderstämmen", wie die übrigen Deutschen in der Bayernhymne genannt werden. Der Historiker Johannes Merz hat in seinem Aufsatz über die Metamorphosen des Titels "Freistaat Bayern" auf ein kurioses Faktum hingewiesen: Während Staatsbezeichnungen sonst kaum eine Rolle spielten, sei diese zu einem "Reizwort weit über Bayern hinaus" geworden. Die einen dächten dabei an Volkstümelei, Partikularismus und Rückständigkeit, die anderen an Eigenständigkeit, Bewahrung des Föderalismus und kulturelle Identität.

Als was der Freistaat keinenfalls gesehen werden sollte

Die bayerische SPD habe schon öfter versucht, den Terminus für sich zu reklamieren, doch gelte er als "politisches Markenzeichen der CSU". Merz zitiert in diesem Zusammenhang den SPD-Mann Friedrich Weckerlein, der einmal aufzählte, als was der Freistaat Bayern keinesfalls gesehen werden sollte: " ... als Postkarten-Kuriosum, als Volksstamm mit eigenbrötlerischen, ja separatistischen Neigungen, als bundesdeutscher Sonderfall mit wortmächtigem Drohpotenzial, als konservative Alpenfestung der letzten wahren Preußen".

Zieht man alte Lexika zurate, wird man beim Stichwort "Freistaat" auf "Republik" oder "res publica" verwiesen, womit der vermeintliche Zauber des Wortes ja schon weitgehend verflogen sein müsste. Johann Christoph Adelung wird in seinem Wörterbuch "der Hochdeutschen Mundart" von 1796 ausführlicher. Der "Freystaat" ist für ihn "ein freyer niemanden unterworfener Staat. Im engern und gewöhnlichsten Verstande, eine Republik, zum Unterschiede von einer Monarchie". Man hätte also auch bei "Republik" bleiben können, doch war es an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert den Puristen ein sprachliches wie nationales Anliegen, Fremdwörter durch deutsche Wörter, regionale Produkte sozusagen, zu ersetzen.

In der jetzt geltenden Verfassung werden dem Staat, der vor 100 Jahren auf das Königreich Bayern folgte, einige Etiketten zugedacht, die einander nicht nur nicht widersprechen, sondern sich sinnvoll ergänzen. Demnach ist Bayern ein "Freistaat" (Artikel 1) und ein "Volksstaat" (Artikel 2), außerdem ein "Rechts-, Kultur- und Sozialstaat" (Artikel 3), wobei der "Freistaat" dank der Tatsache, dass er für den Titel der Verfassung gewählt wurde, doch noch ganz anders im Winde knattert als die anderen Bezeichnungen.

Mit Pathos zum Staatsumbruch

Seine historische Würde bezieht das Wort "Freistaat" aus dem Umstand, dass es Kurt Eisner gebrauchte, als er sich am 8. November 1918 im Namen des Münchner Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrates über die Münchner Neuesten Nachrichten an die Bevölkerung wandte. In dem Aufruf heißt es: "Bayern ist fortan ein Freistaat!", eine Aussage, deren Pathos den Staatsumbruch verdeutlichen wollte. Ein Alleinverwendungsgebot ist daraus aber nicht abzuleiten. Im Umfeld dieser Proklamation finden sich nämlich, und wohlgemerkt immer aus Kurt Eisners Feder oder Mund, auch die Termini "Republik" und "Volksstaat", mal alleinstehend, mal mit näher definierenden Adjektiven versehen, als da wären "bayerisch", "sozial", "frei" und "demokratisch".

Wo das Volk das Sagen hat

Am Morgen des 9. November 1918 flattern in München rote Fahnen, Plakate verkünden die Proklamation der Republik, auch die Münchner Neuesten Nachrichten drucken den Text ab. Dessen wichtigster Satz lautet: "Bayern ist fortan ein Freistaat." Damals kann jeder politisch Interessierte mit dem Begriff etwas anfangen. Er steht seit dem 19. Jahrhundert für einen Staat, der nicht von einem Monarchen regiert wird und in dem die Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Nach dem Ersten Weltkrieg übernehmen viele weitere deutsche Gliedstaaten den Begriff, andere nennen sich "Volksstaat" oder schlicht "Republik". Durch die Neuordnung der Länder in der BRD und die Bildung von Bezirken in der DDR in den Fünfzigerjahren blieb nach 1945 von den vielen deutschen Freistaaten nur Bayern übrig. Erst mit der Neugründung von Sachsen und Thüringen nach der Wiedervereinigung 1990 wurden diese wieder zu Freistaaten.

Was gern vergessen wird: Bayern war nach dem Ersten Weltkrieg nicht der einzige Freistaat, sondern einer unter vielen. Mit "Republik" war der deutsche Gesamtstaat gemeint, mit "Freistaat" die einzelnen Länder. Später schwächte sich das ab in "Gliedstaaten" und "Länder", doch hielt die Weimarer Reichsverfassung neben der Bestimmung, dass das Deutsche Reich eine Republik sei (Artikel 1), fest: "Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben" (Artikel 17).

Mit der gebotenen Nüchternheit sagt Johannes Merz, dass sich der Name "Freistaat" in der Rückschau "als Manifestation der verlorenen inneren Stärke und der neuen reichsrechtlichen Stellung des einst so privilegierten Bundesstaates Bayern" erweist, und er schließt seine Betrachtungen mit dem Fazit, dass dem Staatsnamen erst infolge des Beharrens der CSU an der Regierung "jenes eigenstaatliche, heimatbetonte und konservative Image" zugewachsen sei, das als deren politisches Erkennungszeichen gilt.

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