100 Jahre Freistaat Bayern:Monströses Sammelsurium

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Der Freistaat Bayern feiert 2018 sein hundertjähriges Bestehen. Es ist staunenswert, was die Landesgeschichte in ein einziges Jahrhundert alles hineingepackt hat: Revolution, Diktatur, Krieg. Umso bedauerlicher, dass die Demokratie in der Erinnerungskultur kaum Platz findet

Von Hans Kratzer

Bayern gibt sich im Wettstreit mit den übrigen deutschen Ländern gerne operettenhaft und exaltiert, was natürlich mit einschließt, dass es im Bund eine Sonderrolle beansprucht. Dieser Drang ist historisch bedingt und politisch nicht abzuwürgen, auch wenn Berlin und Brüssel sich nach Kräften bemühen, die Kompetenzen von allzu selbstbewussten Adlaten wie eben Bayern zu schwächen. Ihrer eigenen Stärke eingedenk, neigen die deutschen Südstaaten von Natur aus dazu, sich von außen möglichst wenig dreinreden zu lassen, wobei das Volk diesen Eigensinn noch intensiver pflegt als seine Politiker. Ungeachtet dessen wurde das bayerische Selbstverständnis, etwas Besonderes darzustellen, im Jahr 2018 sogar noch befeuert. Das Doppeljubiläum "100 Jahre Freistaat und 200 Jahre Verfassungsstaat Bayern" verschaffte ideale Gelegenheiten, die eigene Bedeutung offensiv herauszustellen.

Die zahlreichen Gedenk- und Jubelveranstaltungen riefen aber auch in Erinnerung, dass die 100-jährige Geschichte des Freistaats Bayern nicht nur eine unglaubliche Erfolgsgeschichte beinhaltet, sondern ebenso ein Sammelsurium an historischen Monstrositäten. Es ist staunenswert, was die Landesgeschichte in ein einziges Jahrhundert alles hineingepackt hat: Revolution und Bürgerkrieg, Terrorherrschaft der Nationalsozialisten, Zerstörung von Staat, Gesellschaft und Kultur, das Trümmerfeld von 1945 und die Jahrzehnte des Aufbaus des heutigen Rechts-, Sozial- und Kulturstaats Bayern.

Ausgangspunkt dieser extrem wirren Ära war das Schicksalsjahr 1918, in dem Bayern die brüchig gewordene Monarchie abstreifte, um ins Gewand einer parlamentarischen Demokratie zu schlüpfen. Das erwies sich allerdings als ein schmerzhafter, später sogar blutiger Prozess, der unter den Leitbegriffen Revolution und Räterepublik bislang einigermaßen gut dokumentiert war. Im nun zu Ende gehenden Gedenkjahr wurden die Nuancen, Feinheiten und Absurditäten dieser Umbruchszeit in Büchern, auf Tagungen und auf Kongressen aber noch sehr viel klarer herausgearbeitet, das Bild von den Anfängen des Freistaats hat sich dadurch deutlich geschärft. "Das Gedenkjahr hat zu einer deutlich differenzierteren Kenntnis und Diskussion der Vorgänge von 1918/19 mit all ihren Ambivalenzen beigetragen", bestätigt auch der Historiker Ferdinand Kramer, der das Institut für Bayerische Geschichte an der Münchner Universität leitet. Manch aktuelle Darstellung der damaligen Ereignisse liest sich packend wie ein Thriller. Die Radikalität des Umbruchs von 1918/19 wirkt bis heute atemberaubend. Das monarchisch geprägte, überwiegend bäuerlich-christliche Bayern war plötzlich in der Hand von Revolutionären und Räten, für kurze Zeit existierte sogar eine Art Sowjetbayern, die bayerische Geschichts-Operette nahm bizarre Züge an. Die Namen, die von 1918 an das Geschehen vorantrieben, haben die Zeiten überdauert: Eisner, Toller, Hitler, Hoegner, Goppel bis hin zu Strauß, Stoiber und Seehofer. Letztere haben das Eigenwillige, Aufmüpfige, Dickschädelige nicht weniger repräsentiert als die von ihnen regierten Bürger.

Ein Höhepunkt des Festjahres "100 Jahre Freistaat" war der Festakt von Staatsregierung und Landtag im Münchner Nationaltheater. Ferdinand Kramer erinnerte in seiner Rede daran, wie 1965 in München Abertausende der britischen Königin Elisabeth und dem Ministerpräsidenten Alfons Goppel zujubelten. "Was für eine Szene!", sagte Kramer: "Bayern hatte den Wiederaufbau bewältigt, zahlreiche Reformen waren in die Wege geleitet, die Bewerbung für die Olympischen Spiele 1972 kam in Gang. Der Ministerpräsident, der noch in der Monarchie aufgewachsen war und den revolutionären Umbruch von 1918 als 13-Jähriger bewusst erlebt hatte - daneben die englische Königin." Das Ganze wirkt für Kramer wie eine Aussöhnung der langen monarchischen mit den jüngeren republikanisch-demokratischen Traditionen der bayerischen Geschichte.

Die einschlägigen Debatten zur Geschichte des Freistaats machten aber auch deutlich, dass die bislang gepflegte Erinnerungskultur Lücken aufweist. "Mit Residenzen, Schlössern, Kirchen und Klöstern, mit Museen über Kunst, Bauernhäuser, Handwerk und Industrie erinnern wir an vielfältige Aspekte unseres reichen kulturellen Erbes, in jüngerer Zeit auch durch wichtige Dokumentationsstätten zur NS-Vergangenheit", sagte Festredner Kramer. An die Orte der Demokratie aber werde wenig erinnert. Kramer warb für eine moderne Erinnerungskultur, die um diesen Aspekt erweitert werden sollte. Tatsächlich kennen nur wenige die Namen von wirkmächtigen Demokraten. Wer weiß um die Väter und wenigen Mütter der demokratischen Verfassungen Bayerns von 1919 und 1946? Wem sind die Orte bewusst, wo Demokratie entwickelt, gelebt oder verteidigt wurde, wo Volksbegehren und Protest ihren Ausgang genommen haben und das Land ein Stück verändert und weiter entwickelt haben? Daran zeigt sich: Erst wenn dieses Bewusstsein geschärft ist, hat das Gedenkjahr 2018 seinen Sinn erfüllt.

© SZ vom 31.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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