Lager Föhrenwald:Wie eine Nazi-Siedlung zum Zufluchtsort wurde

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Start in ein neues Leben: Viele Menschen erlebten im Lager Föhrenwald trotz aller Strapazen und Entbehrungen eine schöne Kindheit, wie sie heute rückblickend resümieren. (Foto: Hartmut Pöstges/Erinnerungsort Badehaus/OH)
  • Im Wolfratshauser Stadtteil Waldram spiegelt sich die Geschichte Deutschlands.
  • Erst war Föhrenwald eine Mustersiedlung der Nazis, dann träumten Tausende Überlebende des Holocaust dort von einer besseren Zukunft
  • Ehrenamtliche wollen jetzt eine Dokumentations- und Begegnungsstätte bauen - doch die Finanzierung steht noch nicht.

Von Hans Kratzer, Wolfratshausen

Vor 70 Jahren ist Leslie Schwartz dem Tod häufig näher gewesen als dem Leben. Als der freundliche US-Bürger vor wenigen Monaten in den Wolfratshauser Stadtteil Waldram zurückkehrte, krochen in ihm schreckliche Erinnerungen hoch, aber letztlich überwog doch das Gefühl der Hoffnung und der Dankbarkeit.

Vor allem, als er vor der alten Unterkunft stand, die ihm letztlich das Überleben ermöglicht hat. Der damals 15-jährige ungarische Jude war 1945 nur knapp der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie entkommen, aber er war schwer gezeichnet. Völlig abgemagert hatte er das Lager Föhrenwald im Wolfratshauser Forst erreicht, so hat Waldram damals geheißen.

Mit mehreren jungen Männern fand er in einem kleinen Haus Unterschlupf. "Wir waren nur interessiert, erst einmal zu fressen", sagte der heute 85-Jährige, die ausgehungerten Burschen stopften also ihre Mägen mit Sardinen und Thunfisch aus Dosenvorräten voll.

Föhrenwald als "Paradies"

Für die Überlebenden der Nazi-Barbarei fühlte sich selbst das karg ausgestattete Lager Föhrenwald wie ein Paradies an. Chana Braun, die einst aus einem Arbeitslager nach Föhrenwald kam, erinnerte sich bei einem Besuch: "Für uns war das Leben hier wie eine Erholung, es war schön und sauber, wir bekamen erstmals ein richtiges Essen."

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Es ist ergreifend, mit Zeitzeugen wie Leslie Schwartz und Chana Braun zu sprechen. Gerade die Geschichte der Siedlung Föhrenwald-Waldram zeigt, warum die Erinnerung unbedingt wachgehalten werden muss. Nicht zuletzt mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsfrage, deren Probleme kaum anders gelagert sind als jene vor 70 Jahren.

Auch damals wurde Wohnraum gesucht, und es war unter schwierigsten Bedingungen Integration zu leisten. Im Lager Föhrenwald fanden nach 1945 Tausende Überlebende des Holocaust Unterschlupf. Vor allem an diesem Ort bündeln sich deutsche und europäische Geschichte wie in einem Brennglas. Föhrenwald hat unglaubliche Wandlungen durchlaufen - von einer nationalsozialistischen Mustersiedlung über ein jüdisches Überlebendenlager bis hin zum katholischen Siedlungswerk.

Im DP-Lager Föhrenwald lebten zeitweise bis zu 6000 Menschen, unter ihnen der ehemalige KZ-Gefangene Leslie Schwartz (hier im Gespräch mit Sybille Krafft, der Vorsitzenden des Vereins "Bürger fürs Badehaus"). (Foto: Hartmut Pöstges)

Es ist deshalb kaum zu glauben, dass heute vieles vergessen ist, was sich in Föhrenwald-Waldram zugetragen hat. Bis vor wenigen Jahren war das Lager aus dem kollektiven Gedächtnis von Wolfratshausen gestrichen, es war fast ein Tabu. Nicht einmal die Waldramer selber wussten über die bemerkenswerte Vergangenheit ihres Stadtteils voll Bescheid.

Und deshalb wäre auch um ein Haar das Herzstück des Lagers Föhrenwald vernichtet worden. Hätte sich nicht in letzter Minute eine Bürgerinitiative für den Erhalt stark gemacht, wäre das alte Badehaus der Spitzhacke zum Opfer gefallen. Dabei handelt es sich um ein einmaliges Bauwerk.

"Welt- und Regionalgeschichte greifen hier ineinander wie sonst kaum irgendwo, das ist eine einzigartige Konstellation", sagt Sybille Krafft, die Vorsitzende des aus der Bürgerinitiative hervorgegangenen Vereins "Bürger fürs Badehaus Waldram-Föhrenwald". Der 2012 gegründete Verein will das Badehaus zu einem modernen Erinnerungsort ausbauen, an dem der Bevölkerung die Geschichte von Waldram erklärt wird.

"Wir haben aber nicht überall Freunde", sagt Frau Krafft. Kein Wunder: Der Verein hat Wirbel gemacht und umfangreiche Immobilienpläne durchkreuzt. Immerhin: Seit Mai gehört das Badehaus dem Verein, die Kirche hat es ihm unter der Auflage übertragen, daraus ein Haus des Gedenkens zu machen.

Am Anfang war das Badehaus Teil der nationalsozialistischen Mustersiedlung Föhrenwald, die 1939/40 für deutsche Arbeitskräfte sowie für Zwangsarbeiter der nahegelegenen Munitionsfabriken im Staatsforst von Wolfratshausen errichtet wurde.

SZ-Karte (Foto: N/A)

Die zweite Zeitschicht berührt einen Todesmarsch von KZ-Häftlingen, der am Lager vorbeiführte. Nach ihrer Befreiung wurden Überlebende des NS-Terrors hier untergebracht und medizinisch versorgt. Zu ihnen gehörte beispielsweise der Jazzmusiker Coco Schumann, der mehrere Konzentrationslager sowie den Todesmarsch überlebt hatte und mit Flecktyphus nach Föhrenwald gebracht wurde.

Grundstein für eine Weltkarriere

Ehemalige Mithäftlinge besorgten ihm eine Gitarre, und schon am Krankenbett spielte er damit. Ausgerechent in Föhrenwald legte er damit den Grundstein für eine Weltkarriere.

In der dritten Zeitschicht wurde Föhrenwald zu einem Camp für sogenannte Displaced Persons (DPs) umfunktioniert. Zehntausende heimatlose Holocaust-Überlebende durchliefen dieses Camp, bis sie ein neues Leben beginnen konnten. 1957 verließen die letzten jüdischen Bewohner Föhrenwald, das eines der größten Lager für jüdische Displaced Persons in Deutschland war.

Dort wurde eine Art "Willkommenskultur" für die Überlebenden der Nazi-Greuel gepflegt. Es gab nicht nur eine Synagoge, sondern auch ein Kino, eine Bäckerei, eine Schneiderei und sogar einen eigenen Fußballklub.

Zuletzt verwandelte sich Föhrenwald in eine Siedlung für Heimatvertriebene. 1955 hatte das Katholische Siedlungs- und Wohnungsbauwerk das Areal gekauft, die Gebäude renoviert und zu günstigen Konditionen an heimatvertriebene katholische Familien vergeben.

1957 wurde Föhrenwald in Waldram umbenannt. Eindrucksvoll ist der Wandel der Zeiten an den Straßennamen abzulesen, die zunächst nationalsozialistisch klangen (1939-45), dann amerikanisch (1945-56) und jetzt katholisch.

Der heutige Kolpingplatz hieß zuerst Danziger Freiheit, dann Independence Place. Aus dem Adolf-Hitler-Platz wurde der Roosevelt-Square und dann der Seminarplatz.

Wer heute durch das reizvoll gelegene Waldram fährt, spürt immer noch die Atmosphäre von vor 70 Jahren. Die kleinen Häuser, die Knickgiebel, die Schleppgauben und die Spuren jüdischer Leuchter an mancher Hausfassade zeugen von der spannenden Geschichte dieser Siedlung, die heute eine bürgerliche Wohngegend ist.

Man könnte an vielen Häusern die Wechselfälle der Geschichte aufzeigen. Und mittendrin das Badehaus, das in der NS-Zeit Wohnraum bot und später dann als Mikwe diente, als ein jüdisches Ritualbad. Chana Braun sagte, sie habe hier noch eine rituelle Waschung vollzogen.

Sie hatte ihren Mann Benjamin im Lager Föhrenwald kennengelernt und ihn dort auch geheiratet. "Es war die letzte Hochzeit, die im Lager stattfand", erzählte sie bei ihrem letzten Besuch.

Kein Denkmalschutz für das Ensemble

Am Rande der Stadt Wolfratshausen gelegen, blieb Waldram danach lange Zeit von größeren Veränderungen verschont. Doch mitten im Herzen der Siedlung, direkt gegenüber dem Badehaus, wurde ein Bauträger-Riegel hingeklotzt, der das traute Bild des Ensembles massiv stört. Wäre Waldram mit seinem Badehaus nicht sogar ein Paradefall für ein denkmalgeschütztes Ensemble?

Nein, sagt das Landesamt für Denkmalpflege, das zu dem Ergebnis kam, der historische Baubestand in Waldram sei mittlerweile so stark verändert worden, dass eine Denkmaleigenschaft nicht mehr gegeben sei.

Den Badehaus-Verein ficht das aber nicht an. Er hat die 1,6 Millionen Euro, die der Umbau des Badehauses zu einer Dokumentations- und Begegnungsstätte verschlingen wird, fast beisammen.

Ort für das Geschichtsbewusstsein

Trotzdem fehlen noch 86 000 Euro. Sybille Krafft ist optimistisch, diese Summe noch aufzutreiben, immerhin unterstützen den Verein bereits 300 Mitglieder, darunter auch ehemalige jüdische Bewohner des Lagers Föhrenwald sowie der KZ-Überlebende Max Mannheimer, der einst in Föhrenwald sogenannte Hardcore-Cases versorgt hat, schwerst traumatisierte Menschen.

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Es bedarf einiger Hartnäckigkeit, um so ein Projekt durchzusetzen. Anders als bei den großen Gedenkstellenorten Dachau, Flossenbürg und in den NS-Dokumentationsstellen muss in Waldram alles ehrenamtlich geleistet werden.

"Aber der Ort hat es einfach verdient, im Geschichtsbewusstsein zu bleiben", sagt der Autor Stephan Abarbanell, der gerade seinen ersten Roman veröffentlicht hat ("Morgenland"), in dem er von einer jungen Jüdin im Lager Föhrenwald erzählt.

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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