Irsee:Wo der Himmel die Hölle trifft

Einst war das Benediktinerkloster Irsee ein Zentrum des Glaubens und der Musik. Nach der Säkularisation entstand hier die erste moderne Anstalt für geistig Behinderte. Die Nazis machten daraus eine Tötungsmaschinerie

Von Lisa Schnell, Irsee

Wer ins Himmelreich blicken will, der muss erst mal durch die Höll. So ist das auf jeden Fall in Irsee im Allgäu bei Kaufbeuren. Höll nennen die Dorfbewohner dort die finsteren Wälder um ihr Kloster. Jeder Pilger, der sich durchs dunkle Unterholz kämpft, muss das Gefühl haben, gleich einen Gruß an den Herrgott selbst richten zu können, wenn er den Blick hebt zum lichtdurchfluteten Treppenhaus von Kloster Irsee: Von der Decke grüßen aus dem Westen die christlichen Tugenden, im Süden stürzt Luzifer gerade in den Abgrund, der griechische Gott der Zeit, Chronos, hebt wissend die Sense.

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Zu ihm blickten die Mönche auf, die bis 1802 in Kloster Irsee Gott und die Welt studierten. Durch das prunkvolle Treppenhaus gellten aber auch die Hungerschreie von psychisch Kranken, die von den Nazis ermordet wurden. Heute ist das Kloster ein Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrum. Leiter Stefan Raueiser will das dunkle Kapitel des Klosters während der Nazi-Zeit nicht verschweigen, beginnen möchte er aber doch lieber mit der Musik.

In seinem Büro steht ein Cembalo, darauf vergilbte Notenblätter. Kloster Irsee galt im 18. Jahrhundert als ein Zentrum für Musik und Naturwissenschaft weit über die Grenzen von Schwaben hinaus. Ohne mindestens zwei Instrumente spielen zu können oder wenigstens eine sehr schöne Stimme zu haben, musste sich keiner bemühen, in das Benediktinerkloster aufgenommen zu werden. Es gab mehr Violinen, Pauken und Trompeten als Mönche. Der Subprior Mainrad Spieß war ein "richtiger hidden champion", sagt Raueiser. Als armer Metzgerssohn von den Mönchen gefördert, wurde er am Münchner Hof zum Komponisten ausgebildet. Er war Brieffreund von Johann Sebastian Bach und verfasste eine Kompositionslehre, mit der auch Anton Bruckner studierte. Von seinen Orchestermessen, Requien und Litaneien waren einige achtstimmig, auch wenn es manchmal nur sechs Mönche im Kloster gab. "Da muss der heilige Geist mitgesungen haben", sagt Raueiser. Vom Geist waren die Mönche eh beseelt, und zwar von dem der Aufklärung, die eher weniger verbreitet war in süddeutschen Klöstern der damaligen Zeit. Doch in Irsee waren die Naturwissenschaften fast ebenso wichtig wie die Theologie. In ganz Europa wurden die Mönche gerne als Lehrer empfangen.

Irsee: Heute ist das Kloster ein Tagungs- und Kulturzentrum.

Heute ist das Kloster ein Tagungs- und Kulturzentrum.

(Foto: Kloster Irrsee)

Im Jahre 1802 aber wurde die Bibliothek versiegelt, das Kloster vom Königreich Bayern im Zuge der Säkularisation beschlagnahmt. Die Dorfbewohner strichen nun das zweite "r" aus dem Ortsnamen "Irrsee", denn das alte Kloster wurde zu einer modernen "Irrenanstalt" umgestaltet, wie es sie in Bayern so kaum gab. Früher wurden psychisch Kranke in Gefängnissen weggesperrt. In Irsee konnten sie sich frei bewegen. Mit einer Arbeitstherapie sollte der Unordnung im Kopf eine äußere Ordnung entgegen gestellt werden. Bis zu 300 Patienten halfen im Garten, hackten Holz und rupften das Federvieh. Sie galten als unheilbar. In der NS-Zeit wurde daraus "unwert".

Irsee: Ernst Lossa, eines von 1200 Opfern in Irsee: Der Junge aus Augsburg wurde von den Nazis 1944 mit einer Giftspritze getötet.

Ernst Lossa, eines von 1200 Opfern in Irsee: Der Junge aus Augsburg wurde von den Nazis 1944 mit einer Giftspritze getötet.

(Foto: Kloster Irrsee)

Raueiser blättert nun in einem dicken Buch, in dem die Todesfälle in Irsee aufgelistet wurden. Pro Jahr füllen die Namen etwa eine Seite. Dann kommt er zum Jahr 1944. Er blättert und blättert - insgesamt fast zwölf Seiten mit den Namen der Ermordeten aus nur einem Jahr. Insgesamt wurden unter den Nazis 1200 Patienten in Irsee getötet. Einer von ihnen war Ernst Lossa, über den es mittlerweile auch ein Buch und einen Film gibt. Ein kleiner Junge aus Augsburg, aufmüpfig, unangepasst - heute würde man wohl sagen, er hatte ADHS. In der Nazi-Zeit betitelte ihn ein psychiatrisches Gutachten als einen "triebhaften Psychopathen". Ein "unnützer Esser", "unwertes Leben", das 1944 in Irsee mit einer Giftspritze ausgelöscht wurde. Die Nazis begründeten das nicht nur mit ihrer mörderischen Rassenideologie, sondern auch mit ökonomischen Überlegungen. Sie brauchten Platz in den Krankenhäusern für Kriegsverletzte, rechneten hoch, wie viel psychisch Kranke den Staat jährlich kosteten. Insgesamt mehr als 70 000 Männer, Frauen und Kinder wurden zwischen 1940 und 1941 in sechs Tötungsanstalten vergast. Auch von Irsee und Kaufbeuren wurden fast 650 Patienten in den Tod geschickt. Als die Busse zurück kamen, lagen in ihnen nur noch blutige, nach Gas riechende Klamotten.

Da der Protest in der Bevölkerung stieg, stoppte Hitler die Todestransporte. Das Morden aber ging weiter. Der Leiter der Pflegeanstalt Valentin Faltlhauser entwickelte eine vitamin- und fettlose "Hungerkost", an der die Patienten nach spätestens sechs Wochen starben. "Die Kranken haben förmlich nach Brot geschrien, wenn man durch die Zimmer und Säle ging", erinnerte sich eine Schwester. Andere bekamen wie Ernst Lossa eine Giftspritze. Die Tötungsmaschinerie in Irsee war im Dorf bekannt, sagt Raueiser. Der Pfarrer wohnte direkt gegenüber, alle hörten sie die Todesglocken bei den unzähligen Begräbnissen läuten. Die Aufarbeitung nach 1945 sei allerdings "ausgesprochen schwierig" gewesen. Anstaltsleiter Faltlhauser wurde zwar zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, wegen Haftunfähigkeit schob man die Vollstreckung auf, 1954 wurde er begnadigt. In der Psychiatrie arbeiteten bis zu ihrer Schließung 1972 die selben Schwestern, die 1944 dem Morden zusahen. Das Vergessen hatte erst ein Ende, als Michael Cranach Anfang der Achtzigerjahre Leiter der Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee wurde und sich ausgiebig mit der Aufarbeitung der Verbrechen befasste. Ihm ist es zu verdanken, dass in Irsee eine der ersten Gedenkstätten an die "Euthanasieopfer" der Nazi-Zeit erinnert.

Michael Raueiser läuft über die grüne Wiese des Klosterfriedhofs. Hinter ihm ragen die zwei hohen, weißen Türme der Klosterkirche auf, vor ihm steht auf einem Gedenkstein: "Lass mich dein Leid singen". Es ist das Kirchenlied, das die Patienten in Irsee sangen, wenn sie in die Todestransporte stiegen. Für den Tipp bedanken wir uns bei Roland Götz aus Augsburg.

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