Süddeutsche Zeitung

Integration an Schulen:Merhaba München

Auf die Sprache kommt es an: Gut ein Drittel aller Münchner Kinder haben ausländische Wurzeln. Manche Schulen fördern Schüler mit Migrationshintergrund besonders, um ihre Zukunftschancen zu verbessern.

Von Antonie Rietzschel und Melanie Staudinger

So ganz hat Senna die Sache mit den Knochen, Gelenken und Muskeln noch nicht verstanden. Dass das Skelett die Organe schützt und den Körper gerade hält, will der Realschülerin ja gerade noch eingehen. Aber warum sie ihren Arm nur mithilfe ihrer Muskeln bewegen kann, stellt sie vor ein Rätsel. Fragend betrachtet sie ihren Hefteintrag. "Du hast das falsch eingezeichnet", sagt Lisa-Marie Krell. Die Lehramtsstudentin zeigt Senna den Fehler. Sie arbeitet neben ihrem Studium bei Chancenwerk, einer Organisation, die Nachmittagsbetreuung an vier Münchner Schulen und an einer Freisinger Schule anbietet. Am Freitag sind die Helfer in der Wilhelm-Busch-Realschule in Perlach - der Schule, die Senna besucht.

Ein paar Tische weiter hinten beantwortet Susanna auf Englisch Fragen zu einem Text über King Arthur, Medizinstudentin Kathi Pippich erklärt Sude, warum Menschen Sauerstoff ein- und Kohlenstoffdioxid ausatmen. Melanie und Frederik sitzen über ihren Mathe-Hausaufgaben. Ihnen hilft Natascha. Sie besucht die zehnte Klasse. Bei Chancenwerk, finanziert von der Christophorus-Kinderstiftung, bekommt sie kostenlos einen Intensivkurs in Mathe, der sie auf den Abschluss vorbereiten soll. Im Gegenzug dazu lernt sie einmal pro Woche mit den Kleinen.

"Integration ist bei uns kein Sonderprogramm, sondern Alltag", sagt Schulleiterin Brigitte Preiß. In den Klassen sitzen Kinder, die aus Syrien geflohen sind, neben Bosniern, Türken, Iren, Serben oder Afghanen. Mehr als 70 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Einige sprechen nicht gut Deutsch, andere sind traumatisiert.

In der Wilhelm-Busch-Realschule übernehmen die Lehrer zusätzliche Aufgaben. "Sie sprechen regelmäßig mit den Schülern - nicht nur über den schulischen Erfolg, sondern auch über ihre Probleme zu Hause", sagt Preiß. Wer mit seinen Lehrern nicht reden möchte, der kann sich an die Betreuer von Chancenwerk wenden. "Wir haben alle ein Ziel", sagt Preiß - "die Mittlere Reife und damit eine gesicherte Zukunft."

Ohne guten Schulabschluss wird es schwierig im Berufsleben. Im deutschen Schulsystem aber ist der Erfolg stark abhängig von der sozialen Herkunft. Wer ausländische Wurzeln hat, tut sich oft schwerer. Im Schnitt hat gut jeder dritte Schüler an öffentlichen Schulen in München einen Migrationshintergrund. Das bedeutet, dass er entweder ausländisch ist, im Ausland geboren wurde oder bei ihm daheim überwiegend nicht deutsch gesprochen wird. An den Grundschulen liegt der Anteil bei 41 Prozent, an den Mittelschulen bei 64 Prozent, an Realschulen (31 Prozent) und Gymnasien (17 Prozent) ist er geringer.

Freistaat und Stadt haben als Schulträger auf den gestiegenen Anteil nichtdeutscher Schüler bereits reagiert. Sie senkten die Klassenstärken, gaben zusätzliches Geld für mehr Personal. Um eine gute Sprachförderung zu gewährleisten, stellt das staatliche Schulamt an Grund- und Mittelschulen jährlich 4200 zusätzliche Stunden (das entspricht etwa 150 Lehrkräften) zur Verfügung: In Vorkursen für Kindergartenkinder, einzelnen Förderkursen oder ganzen Förderklassen lernen die Schüler Deutsch. Die Stadt München fördert seit diesem Schuljahr Schulen extra, die überdurchschnittlich viele Schüler mit besonderem Hilfebedarf haben.

Alles Wünschenswerte aber können Staat und Stadt nicht finanzieren. Gerade bei der Integration ausländischer Kinder ist das Engagement der einzelnen Schulen gefragt. Jede muss ihren eigenen Weg finden, etwa über das Mentoring-Programm von Chancenwerk in der Wilhelm-Busch-Realschule. In der Ganztagsschule Berg am Laim lautet das Motto hingegen "Gemeinsam Schule leben". Und mittlerweile gilt die Schule mit 580 Kindern als vorbildlich bei der Integration von Migranten in der Grundschule. Vergangene Woche organisierte sie einen besonderen Projekttag für Lehrer aus ganz Oberbayern. Sie konnten sich beim einmal jährlich stattfindenden Integrationsgipfel Vorträge anhören, sich aber auch in ausgewählte Unterrichtsstunden hineinsetzen, die Kinder beobachten und Fragen an ihre Kollegen stellen.

Janine Recknagel leitet eine erste Klasse an der Schule - knapp zehn Kinder, die meisten haben einen Migrationshintergrund. Die Herkunft der Kinder war bisher nur zu Beginn des neuen Schuljahres Thema, als sich die Kinder kennenlernten. Sie spielten ein simples Spiel: Wer bin ich. "Das Ergebnis ist meist: Wir sind alle gleich. Doch dann stellen wir gemeinsam fest, dass vielleicht jemand anderes eine dunklere Hautfarbe hat", sagt Recknagel. Mehr habe es bisher dazu nicht zu sagen gegeben.

Der kleine Unterschied soll nicht allzu sehr im Mittelpunkt stehen. Aber spätestens wenn es wegen der Herkunft Streit untereinander gibt, will sie sich dem Thema stärker widmen. "Dann schauen wir uns auf dem Globus an, wo die Länder liegen", sagt die Lehrerin. Die Kinder können sich jetzt schon in der Muttersprache ihrer Mitschüler begrüßen. Alle standen im Kreis und lernten unter anderem, dass "hallo" auf türkisch "merhaba"heißt. Vor Kurzem hat die Klasse das muslimische Opferfest gefeiert - ein Vorschlag der Eltern. Sie brachten traditionelles Essen mit, Lehrer und Kinder übten gemeinsam den Bauchtanz.

Die Kinder in der Klasse von Stefanie Nägerl kennen sich seit vielen Jahren. Sie wissen, wo der Banknachbar herkommt, welche Muttersprache er spricht. In der vierten Ganztagsklasse lernen 24 Kinder Mathe und Deutsch. Vier Stunden die Woche arbeiten die Kinder selbständig an ihren Schwächen und helfen sich dabei gegenseitig.

Zahlen bis 1000 oder Verben - Lehrerin Nägerl legt für jedes einzelne Kind einen speziellen Plan mit Aufgaben an, der im besten Fall bis zum Ende der Sequenz abgearbeitet wird. Bei Partnerarbeit legt die Pädagogin auch fest, wer helfen soll. Hat ein Kind Sprachdefizite, bekommt es einen Partner, der helfen kann. Dabei werden nicht nur Jungen und Mädchen untereinander gemischt, sondern auch die Nationalitäten. "Jeder muss lernen, mit jedem zusammenzuarbeiten", sagt Nägerl. Die Herkunft spielt keine Rolle.

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Quelle:
SZ vom 27.11.2013/wib
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