So ganz hat Senna die Sache mit den Knochen, Gelenken und Muskeln noch nicht verstanden. Dass das Skelett die Organe schützt und den Körper gerade hält, will der Realschülerin ja gerade noch eingehen. Aber warum sie ihren Arm nur mithilfe ihrer Muskeln bewegen kann, stellt sie vor ein Rätsel. Fragend betrachtet sie ihren Hefteintrag. "Du hast das falsch eingezeichnet", sagt Lisa-Marie Krell. Die Lehramtsstudentin zeigt Senna den Fehler. Sie arbeitet neben ihrem Studium bei Chancenwerk, einer Organisation, die Nachmittagsbetreuung an vier Münchner Schulen und an einer Freisinger Schule anbietet. Am Freitag sind die Helfer in der Wilhelm-Busch-Realschule in Perlach - der Schule, die Senna besucht.
Ein paar Tische weiter hinten beantwortet Susanna auf Englisch Fragen zu einem Text über King Arthur, Medizinstudentin Kathi Pippich erklärt Sude, warum Menschen Sauerstoff ein- und Kohlenstoffdioxid ausatmen. Melanie und Frederik sitzen über ihren Mathe-Hausaufgaben. Ihnen hilft Natascha. Sie besucht die zehnte Klasse. Bei Chancenwerk, finanziert von der Christophorus-Kinderstiftung, bekommt sie kostenlos einen Intensivkurs in Mathe, der sie auf den Abschluss vorbereiten soll. Im Gegenzug dazu lernt sie einmal pro Woche mit den Kleinen.
"Integration ist bei uns kein Sonderprogramm, sondern Alltag", sagt Schulleiterin Brigitte Preiß. In den Klassen sitzen Kinder, die aus Syrien geflohen sind, neben Bosniern, Türken, Iren, Serben oder Afghanen. Mehr als 70 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Einige sprechen nicht gut Deutsch, andere sind traumatisiert.
In der Wilhelm-Busch-Realschule übernehmen die Lehrer zusätzliche Aufgaben. "Sie sprechen regelmäßig mit den Schülern - nicht nur über den schulischen Erfolg, sondern auch über ihre Probleme zu Hause", sagt Preiß. Wer mit seinen Lehrern nicht reden möchte, der kann sich an die Betreuer von Chancenwerk wenden. "Wir haben alle ein Ziel", sagt Preiß - "die Mittlere Reife und damit eine gesicherte Zukunft."
Ohne guten Schulabschluss wird es schwierig im Berufsleben. Im deutschen Schulsystem aber ist der Erfolg stark abhängig von der sozialen Herkunft. Wer ausländische Wurzeln hat, tut sich oft schwerer. Im Schnitt hat gut jeder dritte Schüler an öffentlichen Schulen in München einen Migrationshintergrund. Das bedeutet, dass er entweder ausländisch ist, im Ausland geboren wurde oder bei ihm daheim überwiegend nicht deutsch gesprochen wird. An den Grundschulen liegt der Anteil bei 41 Prozent, an den Mittelschulen bei 64 Prozent, an Realschulen (31 Prozent) und Gymnasien (17 Prozent) ist er geringer.
Freistaat und Stadt haben als Schulträger auf den gestiegenen Anteil nichtdeutscher Schüler bereits reagiert. Sie senkten die Klassenstärken, gaben zusätzliches Geld für mehr Personal. Um eine gute Sprachförderung zu gewährleisten, stellt das staatliche Schulamt an Grund- und Mittelschulen jährlich 4200 zusätzliche Stunden (das entspricht etwa 150 Lehrkräften) zur Verfügung: In Vorkursen für Kindergartenkinder, einzelnen Förderkursen oder ganzen Förderklassen lernen die Schüler Deutsch. Die Stadt München fördert seit diesem Schuljahr Schulen extra, die überdurchschnittlich viele Schüler mit besonderem Hilfebedarf haben.