Inklusion in Bayern:Sarahs Schul-Odyssee

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Ihre Insulinpumpe, die über eine Kanüle mit einer winzigen Nadel in der Hüfte verbunden ist, kann Sarah selbst bedienen. (Foto: Johannes Simon)

In Bayern wird die Inklusion an Schulen propagiert. Allerdings sind Lehrer oft schon mit einem Diabetiker-Kind völlig überfordert, wie das Beispiel der kleinen Sarah zeigt.

Von Anne Kostrzewa, Weilheim/München

In wenigen Tagen wird Sarah neun, eine große Party im Schwimmbad will sie dann feiern, bei der alle gemeinsam vom Beckenrand reinspringen. Sonja Dorfner lächelt, wenn ihre quirlige Tochter von der geplanten Feier schwärmt. Ein kraftloses, tröstendes Lächeln ist das. Von ihren Schulfreunden hat Sarah fünf Wochen lang nichts gehört. So lange war sie nicht in der Schule, weil ihre Eltern dort um Sarahs Gesundheit fürchteten.

So lange schwelte der Konflikt zwischen Familie, Schule, Gemeinde und Schulamt. Es ging um die Frage, ob und wie das diabeteskranke Kind weiter unterrichtet werden kann. Eine Frage, die Eltern und Lehrer an bayerischen Schulen immer wieder aufs Neue stellen müssen, weil es im Freistaat keine Rechtsgrundlage gibt, die den Umgang mit zuckerkranken Kindern für alle Seiten verbindlich regelt.

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Hat ein Kind Diabetes, muss es auch in der Schule regelmäßig seinen Blutzuckerspiegel kontrollieren und Insulin spritzen. "Die meisten Kinder sind im Umgang mit den Messgeräten sehr fix", sagt Marion Köstlmeier vom Diabetikerbund Bayern. "Gerade kleinere Kinder kann man mit so einer Verantwortung aber nicht alleine lassen, sie sollten immer Unterstützung von einem Erwachsenen haben." Das kann eine Schulkrankenschwester sein, im Einzelfall auch ein Schulhelfer. Weil der aber von den Kassen für Kinder mit Diabetes meist nicht bezahlt wird und sich der Einsatz an Schulen für viele Pflegedienste nicht rechnet, treffen die Eltern meist eine Absprache mit den zuständigen Lehrern.

Auch Sonja und Michael Dorfner, die ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen wollen, suchten immer wieder das Gespräch mit Sarahs Lehrern. Zweimal kriegten sie die Zusage, dass ihre Tochter die nötige Unterstützung bekäme. Zweimal wurden sie nun schon enttäuscht.

Vor drei Jahren, in den Sommerferien vor der Einschulung, hatte die Familie den Befund bekommen: Diabetes, Typ 1. "Die Diagnose hat unser Leben komplett auf den Kopf gestellt", erinnert sich Sonja Dorfner. Sofort informierten die Eltern die Schule. "Das Feedback vom Vorstand war gut. Es sei kein Problem, Sarah beim Messen zu helfen." Die großen Ferien nutzten die Eltern, um die Spitzenphobie der Tochter zu überwinden und sie an die Behandlung zu gewöhnen: ein Piks in den Finger, ein Piks ins Gewebe.

Die erste Klassenlehrerin kümmerte sich nicht

Nach der Einschulung ist die Krankheit für Sarah kein Problem mehr, für die Schule aber durchaus. Die Klassenlehrerin schickt die Sechsjährige zum Blutzuckermessen und Spritzen vor die Tür, allein. Als die Dorfners davon erfahren, kommt für sie nur ein Schulwechsel in Frage. "Für uns war das ein Vertrauensbruch", sagt Sonja Dorfner.

An der Grundschule im Nachbarort soll alles anders werden. Die Schulleiterin, so erzählen es die Dorfners, zeigt sich aufgeschlossen, erklärt sich persönlich bereit, Sarah zu helfen. Und tatsächlich klappt alles gut. Sarah fühlt sich wohl, findet schnell Anschluss, wird sogar Klassensprecherin. Als zur dritten Klasse eine neue Lehrerin die Klasse übernehmen soll, suchen die Dorfners schon vor den Ferien erneut das Gespräch. Sie wollen sicherzustellen, dass Sarah auch weiterhin Hilfe bekommt. "Die Rektorin sagte, dass es weiterhin klappen wird", sagt Sonja Dorfner. "Wir haben unser Kind nach den Ferien mit einem guten Gefühl in die Schule geschickt."

Dass die neue Klassenlehrerin entsprechenden Hilfestellungen nie zugestimmt hat, erfahren die Eltern erst zwei Wochen nach Beginn des neuen Schuljahres. Nicht mal Traubenzucker habe sie Sarah geben wollen, falls diese in den Unterzucker fällt. "Zu einem klärenden Gespräch mit uns war die betroffene Lehrerin nicht bereit", sagt Michael Dorfner. "Das werfen wir der Schule vor. Man hat uns in dem Glauben gelassen, dass alles klappt, hat unser Kind aber sich selbst überlassen."

Die Schule will zu der SZ nichts sagen, Anrufe und Anfragen blieben unbeantwortet. Das zuständige Schulamt Weilheim-Schongau teilt auf Anfrage schriftlich mit, "dass eine Lehrkraft nicht dazu verpflichtet ist, zusätzlich zum Unterricht laufende medizinische Hilfsmaßnahmen an Kindern vorzunehmen" und verweist damit auf ein Schreiben des Kultusministeriums vom August diesen Jahres.

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Das sogenannte KMS soll den Schulen im Umgang mit Medikamenten mehr Sicherheit geben. Es formuliert "medizinische Hilfsmaßnahmen", die einem entsprechend eingewiesenen Lehrer zuzutrauen sind - sofern er sich schriftlich dazu bereit erklärt. Die Maßnahmen umfassen unter anderem: "das Messen des Blutzuckers, das Einstellen eines Insulinpens, die Vornahme subkutaner Injektionen (z.B. Insulininjektionen), das Bedienen einer Insulinpumpe" - Punkte, die explizit den Umgang mit Diabetes umschreiben. Kommt das Kind zu Schaden, haftet demnach der Freistaat. Die Lehrkräfte, so heißt es weiter, sind nur haftbar zu machen, "wenn schon ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt wurden und das nicht beachtet wurde, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsste".

Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, begrüßt die Richtlinie KMS. "Die Eltern haben das Recht zu schimpfen, aber als Schulleiterin muss ich natürlich auch das Wohl meiner Lehrkräfte sicherstellen." Umgekehrt solle es, so Fleischmann, im Interesse jeder Schule liegen, eine rasche und gute Lösung zu finden, damit die betroffenen Kinder nicht unter dem Konflikt leiden. Keinesfalls dürfe das Kind die Schuld bei sich oder der Krankheit suchen. "Dass man das überhaupt dazu sagen muss, zeigt deutlich, dass unser Schulsystem in Bayern alles andere als inklusiv ist, sondern hoch leistungsorientiert und hoch-selektiv", sagt Fleischmann. "Wer durch private Umstände ohnehin herausgefordert ist, hat es in diesem Schulsystem doppelt schwer."

Die Dorfners sagen, man habe ihnen vorgeschlagen, einen Schulbegleiter auf eigene Kosten zu bestellen oder selbst auf Abruf verfügbar zu sein, wenn Sarah beim Messen Hilfe braucht. Ihre Mutter kann da nur den Kopf schütteln: "Mein Mann arbeitet in Vollzeit, ich pflege meine Mutter. Wie sollen wir da in jeder Pause in die Schule kommen?" Weil sich aus Sicht der Dorfners kurzfristig keine andere Lösung finden lässt, lassen sie ihre Tochter noch im September beurlauben.

Beurlaubung nach den Sommerferien

Am Küchentisch üben sie mit Sarah täglich Mathe und Deutsch, nachmittags stellen sie Anträge bei Pflegediensten und bitten immer wieder in Gesprächen mit dem Schulamt um Hilfe. Fünf Wochen dauert es, bis ein privater Pflegedienst zugesagt, die Gemeinde Sarahs Zuweisung in eine neue Schule genehmigt und den nötigen Schulbus für die 15 Kilometer lange Fahrt organisiert hat.

Seit diesem Montag besucht das Mädchen eine Grundschule mit dem Profil "Inklusion". Auf "medizinische" Hilfsleistungen will man sich auch dort nicht einlassen, sagt aber zu, Sarah an ihre Messungen zu erinnern und eine stressfreie Umgebung dafür zu schaffen. Wieder müssen die Dorfners darauf vertrauen, dass ihre Tochter Hilfe bekommt. Wieder muss sich das Mädchen neu einleben. "An der neuen Schule ist man sehr bemüht um uns", betont Michael Dorfner. Sarah gefalle es dort. Ihre größte Hoffnung: Ganz schnell neue Freunde zu finden, die mit ihr im Schwimmbad Geburtstag feiern.

© SZ vom 09.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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