Süddeutsche Zeitung

Initiative des Deutschen Alpenvereins:Wie Bergtouren Flüchtlingen helfen sollen

Bei einem Wanderprojekt lernen sie nicht nur ihre neue bayerische Heimat besser kennen - sondern auch das Trauma der Flucht zumindest kurzzeitig vergessen.

Von Ekaterina Venkina, Oberammergau

"Wenn das Wetter gut ist, sagt man in Deutschland: Wenn Engel reisen..." Christian Greßner lächelt. In den frühen Morgenstunden sehen die Wolken über den Ammergauer Alpen aus wie ein Haufen zusammengeknüllter Zeitungsseiten. Gar nicht himmlisch.

Christian Greßner, der Tourenleiter für das Projekt Alpen.Leben.Menschen (A.L.M.) und - nach eigenen Worten - "ein überforderter Vater von zwei Kindern", ist an diesem grauen Mai-Vormittag ein bergbegeisterter Cicerone, ein Fremdenführer, für seine Gruppe. 18 Teilnehmer, darunter Flüchtlinge aus Afghanistan, Somalia, Sierra Leone und Einheimische aus München, Murnau, aber auch aus Leipzig, sind nach Oberammergau (Landkreis Garmisch-Partenkirchen) gekommen, um Integration beim Bergsteigen zu leben.

2010 war Greßner selbst in Syrien unterwegs und ist von Damaskus nach Tel Aviv gewandert. "Das war eine großartige Erfahrung, weil die Leute da wahnsinnig nett waren", erinnert er sich. Jetzt will der Übungsleiter bei der Sektion Oberland des Deutschen Alpenvereins (DAV) diese Erfahrung zurückgeben. Die Initiative A.L.M. gibt es seit August 2016. Das Gemeinschaftsprojekt des DAV und des Malteser Hilfsdienstes soll den Flüchtlingen das Ankommen im bayerischen Alpenraum erleichtern. Laut Anna Schober, Programmkoordinatorin von A.L.M., haben 2017 mehr als 1000 Menschen, darunter etwa 500 Flüchtlinge, an Dutzenden Bergtouren teilgenommen. Die Initiative erhielt bereits mehrere Preise und Auszeichnungen.

Jawed Rasuli bietet die Frühlingswanderung an diesem dunstigen Morgen eine willkommene Ablenkung. Der 21-jährige Afghane ist im Herbst 2015 nach Deutschland geflohen, das Wandern hilft ihm, die Erinnerungen zu verjagen, die ihn so oft quälen. In der westafghanischen Großstadt Herat habe er zusammen mit seinem Vater für eine amerikanische Firma gearbeitet und sei deswegen von den Taliban verfolgt worden, erzählt Rasuli. Er habe nur zwei Möglichkeiten gehabt: entweder sich den Dschihadisten anzuschließen oder das Land zu verlassen. Einmal habe er ein geköpftes Nachbarskind gesehen, das getötet wurde, weil die Entführer das geforderte Lösegeld von den Eltern nicht bekommen hätten. "Das ist Leben in Afghanistan. Ich möchte das alles vergessen", sagt er.

Er wandert an diesem Tag zusammen mit zwei afghanischen Freunden, Anifullah Hemad, 21, und Rasuli Abdul Samad Watandust, 22, mit denen er auch den Deutschkurs im oberbayerischen Weilheim besucht. Nach dem Unterricht arbeitet er als Regalauffüller bei einem Lebensmitteldiscounter. Jawed Rasuli ist zum ersten Mal bei einer Bergtour dabei, obwohl Afghanistan eigentlich ein Land "mit sehr hohen und schönen Bergen" sei.

Babylonisches Sprachgemisch am Berg

Im Gegensatz zu den mehr als 7000 Meter hohen afghanischen Bergriesen wie Noshak oder Kohe Shakhawr ist das Ziel dieser Wanderung, der oberbayerische Kolbensattel mit seinen 1270 Metern, eine sehr überschaubare Angelegenheit: keine große Tour, 450 Höhenmeter, zwei Stunden bergauf. Doch der Blick über Oberammergau ist herrlich. Im Gänsemarsch geht es durch Gebüsch, Fallholz und wilde Alpen-Heckenrosen. Die warme Luft vibriert von lautem Gelächter und babylonischem Sprachgemisch - Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Paschtu, Dari und Bairisch.

Ganz in der Nähe geht es gerade um den "Mythos Bayern", die Landesausstellung im Kloster Ettal beleuchtet das Thema. Auch beim Wandern begleitet es die Gruppe. "Der bayerische Mythos? Die Leute grüßen sich, was in der Stadt eigentlich gar nicht mehr üblich ist, wenn man sich auf der Straße begegnet", sagt Gottfried Stangl, gebürtiger Bayer, der zusammen mit seiner Frau Heidi an diesem multikulturellen Abenteuer teilnimmt. "Die Natur öffnet praktisch die Herzen, und dadurch verbindet sie auch die Menschen, die sich hier bewegen, Freude finden und schöne Erlebnisse haben", sagt Stangl.

Kurz nach Mittag erreicht die Gruppe ihr Ziel - die Kolbensattelhütte, wo Kaspressknödelsuppe, Kaiserschmarrn mit Apfelmus ("dauert a bissl") und Kasspatzn, dazu Johannisbeersaft und Weißbier vom Fass auf die Wanderer warten. Bergab geht's danach in schwindelerregendem Tempo auf einer der längsten Sommerrodelbahnen weltweit.

Bevor sich der Afghane Jawed Rasuli und der Bayer Gottfried Stangl von den in der Sonne flimmernden Bergen verabschieden, findet Fremdenführer Greßner noch Zeit für ein Fünkchen Philosophie: "Ich würde gerne den Flüchtlingen zeigen, dass man mit wenig Aufwand eine gute Zeit am Berg haben kann. Man kann die Landschaft genießen, man kann die Menschen genießen und das Gespräch. Und alles andere müssen die Leute eigentlich selbst wissen: Wo sie hinwollen und was sie damit machen wollen", sagt er.

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SZ vom 11.05.2018/vewo
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