Ingolstadt:Warum Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge wettern

Ingolstadt: Für Russlanddeutsche gibt es eigene Supermärkte, in denen sie Produkte aus der alten Heimat kaufen können.

Für Russlanddeutsche gibt es eigene Supermärkte, in denen sie Produkte aus der alten Heimat kaufen können.

(Foto: Ritchie Herbert)

Sie kennen das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Dennoch fordern viele eine Umkehr in der Asylpolitik - und sogar den Rücktritt der Kanzlerin.

Von Andreas Glas, Ingolstadt

Es ist kalt und grau, als der Mann mit der Mütze auf die Bank vor dem Rathaus steigt. Die Mütze ist eine Uschanka, wie sie früher Breschnew trug, mit Fell und heruntergeklappten Ohrenwärmen. In der Hand hält der Mann ein Pappschild, "Schützt unsere Kinder und Frauen!!", steht drauf. Er brüllt, er schimpft und fuchtelt mit den Armen. Er ist stinksauer, aber warum, das weiß man nicht genau, jedenfalls nicht, wenn man kein Russisch versteht.

Dann steigt ein anderer Mann auf die Bank, ein großer, runder Mann, er trägt Wollmütze und spricht deutsch, mit russischem Akzent. "Wenn wir jetzt nichts machen, sind wir verloren", ruft er, und dann: "Merkel muss zurücktreten!"

Es ist der letzte Samstag im Januar, etwa 1000 Leute sind zum Ingolstädter Rathausplatz gekommen. Als der große, runde Mann die Kanzlerin zum Rücktritt auffordert, da nicken und klatschen und pfeifen die Leute.

Es sind vor allem Russlanddeutsche, die auf die Straße gehen, um gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu demonstrieren. Nicht nur in Ingolstadt, auch in Nürnberg, in Kempten, in Regensburg, überall in Bayern. Der Auslöser: In Berlin soll die 13-jährige Lisa, Russlanddeutsche, von einem Migranten-Mob vergewaltigt worden sein. Inzwischen weiß man: Die Vergewaltigung hat es nie gegeben. Doch die Wut vieler Russlanddeutscher ist immer noch da.

"Ich kann es nicht ertragen, wenn man uns vergleicht"

Auch Eugen Kunz (Name geändert) ist zur Demo gegangen, hat protestiert. Zwei Wochen danach sitzt er im Stadtteiltreff des Piusviertels im Nordwesten Ingolstadts. Ein Viertel, zugestellt mit Wohnblocks, überall Läden, die an den Fassaden mit kyrillischen Buchstaben werben.

Kunz ist in den Neunzigerjahren nach Ingolstadt gekommen, als Spätaussiedler, wie viele andere. Kaum eine Stadt hatte einen so starken Zuzug von Russlanddeutschen wie Ingolstadt. Etwa 15 000 sind seit den Neunzigern gekommen. Viele von ihnen wohnen im Piusviertel, auch Eugen Kunz, 63.

Er legt seinen Hut auf den Tisch, setzt sich hin, steht wieder auf und rückt einen Stuhl weiter weg. "Das ist mir zu nah", sagt er, mit Journalisten hat er es nicht so, also besser etwas Abstand. Erste Frage: Warum wettern jetzt ausgerechnet Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge? Ausgerechnet diejenigen, die in den Neunzigern selbst erfahren mussten, nicht bei allen Deutschen willkommen zu sein? "Ich sehe da keine Parallelen", sagt Kunz. "Ich kann es nicht ertragen, wenn man uns vergleicht mit diesen anderen Leuten, die zu uns kommen."

Säufer, Schläger, Diebe: Die Vorurteile von einst treffen heute andere

Eugen Kunz ist in Russland geboren, er hat 47 Jahre dort gelebt, hat einen russischen Pass und einen deutschen, seine Großeltern waren ja Deutsche, seine Eltern auch und Deutsch ist seine Muttersprache. Er hat schon recht: Man kann die Flüchtlinge von heute nicht mit den Aussiedlern von damals gleichsetzen - aber Parallelen gibt es schon.

Man kann zum Beispiel an Bayerns früheren Innenminister Günther Beckstein (CSU) denken, der im Wahlkampf 1998 die erhöhte Kriminalität bei Russlanddeutschen anprangerte. Säufer, Schläger, Diebe - das waren die Vorurteile, mit denen Russlanddeutsche damals leben mussten. Und heute, spätestens seit Silvester, sind die Vorurteile wieder da: Säufer, Schläger, Diebe. Nur geht es diesmal gegen die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Irak, Marokko.

"Natürlich war das eine schlimme Zeit, als man Russlanddeutsche als Kriminelle bezeichnet hat", sagt Kunz, "aber die haben sich schnell gefangen, und jetzt sind wir hervorragend integriert". Stimmt, in einem Bericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge heißt es: "Spätaussiedler sind in hohem Maße auf dem deutschen Arbeitsmarkt aktiv. Ihre Arbeitslosigkeit ist gering." Die Integration der Russlanddeutschen ist eine Erfolgsgeschichte.

Die unterschiedliche Berichterstattung verunsichert

Ingolstadt: In kaum einer anderen bayerischen Stadt sind so viele Russlanddeutsche zugezogen. Seit den Neunzigern kamen in Ingolstadt 15 000 hinzu.

In kaum einer anderen bayerischen Stadt sind so viele Russlanddeutsche zugezogen. Seit den Neunzigern kamen in Ingolstadt 15 000 hinzu.

(Foto: Ritchie Herbert)

Auch bei Kunz ist alles glatt gelaufen. In Sibirien war er Ingenieur, Ende der Neunziger ging er mit seiner Frau nach Deutschland, konnte eine Umschulung machen. Keine eineinhalb Jahre hat das gedauert, dann begann er zu arbeiten. Heute ist er Entwicklungsingenieur bei einem Audi-Zulieferer. "Ohne Hilfe des Staates hätte ich es nur halb so schnell geschafft. Aber ich habe es so knapp wie möglich gehalten, dem Staat auf der Tasche zu liegen."

Sie konnten zumindest die Sprache, sagt Kunz

Und da sehe er den Unterschied zur heutigen Situation: Wer als Russlanddeutscher kam, der habe die Sprache gekonnt, die Kultur verstanden, sehr viele jedenfalls. Bei den Flüchtlingen sei das heute anders, "bei denen wird es mit der Integration zweimal länger dauern, wenn nicht dreimal", da ist sich Kunz sicher. Und deswegen will er, dass keine Flüchtlinge mehr kommen.

Ist das also der Grund für die Proteste der Russlanddeutschen? Dass sie selbst erfahren haben, wie hart Integration sein kann? Dass sie sich Gehör verschaffen wollen, weil sie glauben, die Lage besser einschätzen zu können als diejenigen, die sich nie integrieren mussten? In den Medien waren zuletzt ganz andere Theorien genannt worden: dass Russlanddeutsche von russischen Medien aufgehetzt werden, dass die Proteste vom Kreml gesteuert seien, um die Kanzlerin zu schwächen.

Quatsch, sagt Sofia Dortmann, 62, sie sitzt in der Küche ihrer Zweizimmerwohnung im Westen Ingolstadts. Sie schaue sowohl deutsche als auch russische Nachrichten "und das ist das Problem". Soll heißen: Es ist der Kontrast zwischen deutschen und russischen Medien, der viele Russlanddeutsche verunsichert. "Ich glaube beiden nicht", sagt Sofia Dortmann, goldumrandete Brille, goldene Ohrringe, goldene Kette.

Sie glaubt lieber den Leuten in der Nachbarschaft, die Ungeheuerliches erzählen. Zum Beispiel die Sache mit den Flüchtlingen, die ein Mädchen angezündet haben, hier in Ingolstadt, einfach so. "In den Nachrichten habe ich nichts davon gehört", sagt Dortmann, "aber ich bin sicher, dass das stimmt, so was kann man sich nicht ausdenken."

"Die Flüchtlinge haben nicht gearbeitet und bekommen noch mehr"

Erinnere sie das gar nicht an die Vorurteile, die es früher gegenüber Russlanddeutschen gab? Klischees, die sich inzwischen in Luft aufgelöst haben. "Das ist mir im Moment wurscht", sagt Dortmann, im Moment wolle sie nur wieder ohne Angst auf die Straße gehen.

In Sibirien hat Sofia Dortmann als Lehrerin gearbeitet. Als sie in den Neunzigern nach Deutschland kam, musste sie umschulen, war zwölf Jahre Datenerfasserin bei Audi, dann zwei Jahre arbeitslos, bevor sie in Rente ging. "Ich habe 260 Euro Arbeitslosengeld bekommen, obwohl ich zwölf Jahre gearbeitet habe. Die Flüchtlinge haben nicht gearbeitet und bekommen noch mehr. Das ärgert mich", sagt Dortmann.

Und ihre Cousine, die habe in Russland neun Jahre warten müssen, bis ihr Antrag auf Aufnahme als Spätaussiedlerin genehmigt wurde. "Aber die Flüchtlinge kommen einfach rein, das verstehe ich nicht."

Ministerpräsident Seehofer kommt mit seiner Politik gut an

Ist sie neidisch? Nein, sagt sie, auch ihr gehe es um die Frage der Integration. "Ich bin Deutsche, ich habe mit meiner Oma als Kind deutsche Lieder gesungen. Aber die haben eine ganz andere Kultur, die werden nie deutsche Lieder singen." Für sie gebe es nur eine Lösung: "Grenze schließen und niemanden mehr reinlassen", sagt Sofia Dortmann. Zur nächsten Demo werde sie trotzdem nicht mehr hingehen. "Da wurde mir zu viel russisch gesprochen, das finde ich nicht gut."

Also ab jetzt zu Pegida? Nein, es gebe ja Gott sei Dank noch vernünftige Politiker in Deutschland, dann ruft sie hinaus ins Wohnzimmer: "Stimmt's Alexander?" Im Wohnzimmer sitzt ihr Mann vor dem Computer, er liest Nachrichten, es ist der Tag, an dem CSU-Chef Horst Seehofer den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau besucht. Er steht auf, kommt in die Küche, dann sagt er: "Unser König Seehofer, das ist ein guter Mann."

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