Ingolstadt:Umstrittene Livestreams aus dem Stadtrat

Ungeschminkte Wiedergabe aus dem Ingolstädter Stadtrat: Ein Journalist fordert, dass die Sitzungen per Audio-Livestream im Internet übertragen werden. Doch die Stadträte protestieren - und bekommen Unterstützung von bayerischen Datenschützern.

Von Wolfgang Wittl

Als Michael Schmatloch im Ingolstädter Stadtrat unlängst seiner Arbeit nachgehen wollte, stutzte er. Schmatloch ist Mitbegründer von Ingolstadt today, einem Internetportal, das sich als "Multimediazeitung für Smartphone, Tablet und PC" versteht. Der 60-jährige Journalist wollte wie gewohnt die Beiträge der Sitzung mitschneiden. Doch er sah sich jäh ausgebremst: Das Mikrofon, das er bislang angestöpselt hatte, ließ plötzlich keine Tonaufnahmen mehr zu. Aus datenschutzrechtlichen Gründen sei es nicht länger gestattet, die Wortmeldungen der Stadtratsmitglieder als Audiodateien ins Internet zu stellen, erfuhr Schmatloch von der Stadt.

Es geht um eine Frage, die beileibe nicht nur Ingolstadt betrifft: Wie viel Öffentlichkeit muss sich ein Kommunalpolitiker in einer öffentlichen Sitzung gefallen lassen? Wo beginnt sein Persönlichkeitsrecht?

Der bayerische Datenschutzbeauftragte Thomas Petri sagt dazu: "Ich habe nichts gegen Transparenz. Transparenz ist etwas Gutes." Was gut sei, müsse aber nicht immer richtig sein. Die Grenze zieht Petri zwischen hauptberuflichen und ehrenamtlichen Politikern - zwischen einem Verfassungsorgan wie dem Landtag und einem Verwaltungsorgan wie Stadt- oder Gemeinderäten. Es reiche zu wissen, wie ein Stadtratsmitglied abgestimmt habe, sagt Datenschützer Petri. Eine Verbreitung seiner Worte sei dafür jedoch nicht erforderlich. Niemand dürfe durch persönliche Eigenheiten bloßgestellt werden, zum Beispiel wenn er stottert.

Michael Schmatloch kommt in der Abwägung zwischen Persönlichkeitsrechten und öffentlichem Interesse zu einem anderen Ergebnis. Der Journalist ist der Auffassung: Wer ein politisches Amt übernimmt, egal welches, muss damit leben, dass er im Original zitiert wird. "Auf welcher Grundlage soll der Bürger sonst wählen können?" Nicht jeder Arbeitnehmer habe schließlich Zeit, nachmittags Sitzungen zu besuchen. Schmatloch ist ein großer Fan der ungeschminkten Wiedergabe.

In seinen acht Jahren als Chefredakteur des Donaukuriers verweigerte er beispielsweise das Autorisieren von Interviews, weil es nur dem Zweck diene, das Gesagte nachträglich zu manipulieren. Als das Büro des damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber angeblich sogar Fragen umformulieren wollte, habe er das Interview in den Papierkorb werfen lassen. Daher hegt Schmatloch auch Sympathien für Livestreams, also für das Filmen von Stadtratssitzungen und ihre Übertragung im Internet.

Stadträte müssen zustimmen - mehr oder weniger freiwillig

Ob ein Kommunalpolitiker sich darauf einlässt, darf er selbst bestimmen. Im Datenschutzbericht heißt es: "Eine Übertragung der Sitzungsbeiträge von Gemeinderatsmitgliedern oder Redebeiträgen von Gemeindebediensteten im Internet ist nur zulässig, wenn diese der Übertragung zugestimmt haben - und zwar sowohl was Bild, wie was Ton betrifft." Die Debatte darüber hat schon manches Gremium gespalten.

In Passau werden Sitzungen seit eineinhalb Jahren im Netz gezeigt. Sprecher Herbert Zillinger erinnert sich an "anfängliche Irritationen und sehr emotionale Diskussionen", doch das sei jetzt vorbei. Auch Stadtratsmitglieder, die sich zunächst nicht filmen lassen wollten und bei ihren Wortmeldungen ausgeblendet wurden, seien umgeschwenkt. Wie freiwillig das geschah, sei dahingestellt. Ein wöchentlich erscheinendes Anzeigenblatt verstieg sich zu der Schlagzeile: "Passaus feigste Stadträte" - und listete jeden auf, der sich einer Übertragung widersetzte. Der öffentliche Pranger verfehlte seine Wirkung nicht: Alle Passauer Räte haben dem Sitzungs-Livestream im Internet mittlerweile zugestimmt.

Das Ansinnen der Stadt Passau, dadurch "einen Beitrag zu mehr Transparenz zu leisten", wie Zillinger sagt, ist indes nur teilweise von Erfolg gekrönt. Zwar kann nun jeder Ausschuss in Echtzeit begleitet werden, doch der Reiz des Neuen ist merklich gesunken. Von anfangs mehreren Hundert Usern sind je nach Thema zwischen 30 und 50 übrig geblieben, bei jährlichen Übertragungskosten von 15.000 Euro für die Stadt. Immerhin: Das Redeverhalten der Stadträte - etwa durch eine befürchtete Zunahme von Schaufenster-Monologen - habe sich nicht groß verändert.

Der Ingolstädter Stadtrat hat so einen Livestream im vergangenen Sommer mehrheitlich abgelehnt. Für Datenschützer Petri eine richtige Entscheidung, er sagt: "Es gibt Sachen, die haben im Netz nichts zu suchen." Etwa dann, wenn Politiker über Dritte reden. Petri weiß von einer Frau, die im Stadtrat namentlich für ihr ehrenamtliches Engagement gelobt wurde. Als sie davon erfuhr, sei sie aus allen Wolken gefallen. Die Frau war Opfer eines Stalkers - und hatte sich extra zurückgezogen. "Das Internet entzieht sich jeglicher Zweckbindung", kritisiert Petri, daher rate er auch bei Tonmitschnitten zur Zurückhaltung.

Die Stadt Ingolstadt hat nun alle Stadtratsmitglieder angeschrieben, ob sie der Verbreitung ihrer Wortmeldungen zustimmen. "Wir schöpfen mit diesem Vorschlag die Rechtslage zu Ihren Gunsten voll aus", heißt es in einer Mitteilung an Michael Schmatloch. Der spielt bereits mit dem Gedanken, einen Juristen zu konsultieren: "Man müsste den Begriff Öffentlichkeit generell klären", sagt er. Einstweilen wolle er die Sitzungen weiter aufnehmen - über Lautsprecher und mit Tastengeklapper im Hintergrund.

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