Süddeutsche Zeitung

OB-Stichwahl in Ingolstadt:SPD beendet CSU-Ära nach 48 Jahren

Christian Scharpf gewinnt gegen CSU-Mann Christian Lösel. Er profitiert von der Korruptionsaffäre um Ingolstädter CSU-Politiker - auch wenn Amtsinhaber Lösel nicht selbst verstrickt war.

Von Johann Osel, Ingolstadt

Als treffsicheres Orakel tat sich dieser Tage der Kommentator des Magazins Ingolstädter Stimme hervor. "Der nächste Ingolstädter Oberbürgermeister heißt Christian und hat einen Doktortitel", schrieb er und hatte auf jeden Fall recht. Ob aber Amtsinhaber Christian Lösel (CSU, Betriebswirt) oder Christian Scharpf (SPD, Jurist) vorn liegt, ließ er offen. Nur wenige Zehntelprozent hatten die beiden vor zwei Wochen getrennt. Scharpf konnte Wahlaufrufe von weiteren Parteien aufbieten, darunter die starken Grünen, Lösel hoffte auf einen OB-Bonus in der aktuellen Krise. Am Sonntag lief dann rasch alles auf den Herausforderer zu. Scharpf lag zwischenzeitlich immer vorne, bis letztlich die Sensation amtlich war: 59,3 Prozent für den SPD-Mann - Zeitenwende in Ingolstadt.

Ein "historisches Ereignis nach 48 Jahren CSU-Regentschaft" nannte es auch der 48-jährige Wahlsieger in einer ersten Reaktion. Es stand ja nichts Geringeres als eine Ära zur Abstimmung. Die CSU stellte in der Heimatstadt Horst Seehofers seit fast 50 Jahren den OB: 1972 kam Peter Schnell ins Amt und blieb da stolze 30 Jahre; er genießt bei Alteingesessenen bis heute Verehrung und trug den Beinamen "Bürgerkönig".

2002 folgte Alfred Lehmann, bei dem das Motto "Bürgerkonzern" lautete - als solchen definierte er die Stadt und sich selbst als dessen Lenker. Davon hat Ingolstadt profitiert, die wirtschaftliche Blüte fußt auch auf Lehmanns Geschick in der Standortpolitik. 2014 übernahm dann (mit knapp 53 Prozent Zustimmung) Lösel, der zuvor als Lehmanns rechte Hand im Rathaus gewirkt hatte. "Zahlen lügen nicht", notierte das Rathausblatt beim Wechsel vor sechs Jahren, "von der Ära Lehmann wird viel bleiben". Gemeint war der strukturpolitische Erfolg, es blieb jedoch etwas anderes: 2016 begann eine Affäre um Vetternwirtschaft am kommunalen Klinikum publik zu werden, die unter Lehmanns Stadtführung gedeihen konnte.

Lösel wiederum trieb Aufklärung und mehr Transparenz für städtische Beteiligungen voran, dennoch blieb ein Makel an Rathaus und CSU hängen. Bald rückte Lehmann selbst ins Visier der Staatsanwälte, es ging um heikle Immobiliendeals, enge Bande mit Bauunternehmern und dubiose Entscheidungen städtischer Tochtergesellschaften. 2019 wurde der Alt-OB wegen Bestechlichkeit und Vorteilsannahme zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt.

Lösel gelang die Distanzierung vom Vorgänger, ein eigenes privates Investment (in einer Firma mit Lehmann und einer Baufirma) gab er zügig auf. Lösel selbst stand auch nie im Fokus von Ermittlungen. Aber ein Imageschaden blieb, der nun abgewählte OB sprach bereits nach Wahlgang eins von "Lasten der Vorvergangenheit". Doch in der gesamten Skandalgeschichte drängte sich vielen Bürgern der Eindruck starrer Machtblöcke und einer Spezl-Attitüde im Rathaus auf. Der Komplex hat den Wahlkampf übertüncht, auch wenn es an sich genug Themen gegeben hätte: etwa die Verkehrspolitik in der notorisch verstopften Autostadt; oder die Dieselkrise und deren Folgen für Audi. Hierbei hatte Lösel gut vorgelegt, in der Stadt wurden Projekte für Zukunftsbranchen angedockt, wie Künstliche Intelligenz oder autonomes Fahren.

All die Skandalnachwehen boten gleichwohl die Chance für Scharpf. Er ist zwar in Ingolstadt aufgewachsen, in der Stadtpolitik aber Novize. Er arbeitet im Münchner Rathaus als Stadtdirektor, da lernte er unter den SPD-Oberbürgermeistern Christian Ude und Dieter Reiter, so erzählt er, "wie man eine Großstadt erfolgreich regiert". Er habe Erfahrung, gehöre aber nicht zum "politischen Establishment" mit "eingefahrenen Strukturen und Seilschaften". Sein Programm versprach einen anderen Stil mit überparteilichem Regieren und ein "soziales Ingolstadt" - zudem, dass er die städtischen Beteiligungsstrukturen, Stichwort "Bürgerkonzern", prüfen lassen wolle.

Die CSU verschließt sich der Zusammenarbeit mit Scharpf offenbar nicht.

Erstmals in Erscheinung getreten in der Lokalpolitik war Scharpf 2019, als Wahlkampfhelfer für seine Genossen bei der Europawahl. Die SPD musste damals nicht nur ihre Flyer wie Sauerbier anpreisen, sondern landete bei mauen 8,8 Prozent. Auch jetzt beim Stadtrat war das SPD-Resultat eher mäßig, doch bei der OB-Personenwahl konnte Scharpf eine klare Mehrheit holen. Ein 100-Tage-Programm hat er bereits erstellt, darin finden sich etwa: Verbesserungen im ÖPNV oder ein "roter Faden" für Familien, Senioren und Vereine. Viele der 14 Punkte handeln vom Umgang mit Bürgern und Mitarbeitern und eben von der breiten Kooperation im Stadtrat.

Anderes bleibt Scharpf auch kaum übrig, der neue Stadtrat ist extrem zersplittert: Neben CSU (13 Sitze), SPD (neun) und Grünen (acht) gibt es acht weitere Gruppierungen mit vier oder zwei Sitzen. Die CSU verschließt sich der Zusammenarbeit mit einem OB Scharpf jetzt nicht. Lösel habe dies angeboten, sagte Scharpf am Abend. Und eine "Einarbeitung" - bereits am Montagmorgen stehe ein Corona-Termin an.

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SZ vom 30.03.2020/flud
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