Gerhard Reichert ging noch zur Schule, als er der großen Lüge des Ingolstädter Zeitungsfürsten auf die Spur kam. In einer Schülerzeitung schrieb der Gymnasiast Anfang der 1970er-Jahre erstmals über die NS-Verstrickung des einflussreichen Donaukurier-Herausgebers Wilhelm Reissmüller. „Der Vorläufer des Donaukurier war das nationalsozialistische Hetzblatt, der Donaubote, in dem [...] Dr. Wilhelm Reissmüller Verlagsleiter war“, berichtete Reichert.
Wenige Jahre später ernannte der Stadtrat den Zeitungsmann und Kulturförderer zum Ehrenbürger Ingolstadts; er erhielt das Bundesverdienstkreuz und den Bayerischen Verdienstorden. Bis zu seinem Tod 1993 blieb er die graue Eminenz der Stadt, sein Nimbus hielt auch später. Erst im vergangenen Jahr wurde ein großes Porträt Reissmüllers im Verlagshaus des Donaukurier abgehängt. Am Dienstag, 49 Jahre nach seiner Ernennung zum Ehrenbürger, erkannte der Stadtrat Reissmüller die Würde wieder ab, posthum.
Der symbolische Akt ist auch ein später Sieg des Gerhard Reichert, heute 72. „Wenn ich mit irgendwas nicht mehr gerechnet habe, dann damit“, sagt Reichert, der schon lang nicht mehr in Ingolstadt lebt. Doch natürlich stellt auch er sich die Frage: Warum wollte in der Stadt so lang niemand sehen, was er als Schüler schon vor einem halben Jahrhundert beschrieb?
Der Ingolstädter Donaubote, ein NS-Propagandablatt im Stil des Stürmer, war 1927 vom Hitler-Getreuen Ludwig Liebl gegründet worden. Reissmüller kam in den 1930er-Jahren als Student in den Verlag, heiratete Liebls Tochter Elin und stieg zum Verlagsleiter auf. Er schrieb auch Artikel, tauchte als „Pg. Dr. Reissmüller“ auf, Pg. für: Parteigenosse. Von seiner Rolle beim Donauboten, seiner Mitgliedschaft in der NSDAP und weiteren NS-Organisationen wollte Reissmüller aber nach dem Krieg nichts mehr wissen, wie der junge Gerhard Reichert schnell erfahren sollte.
Zunächst ging Reissmüller mit Dienstaufsichtsbeschwerden gegen zwei Lehrer vor, die Reicherts Schülerzeitung beaufsichtigten. Reichert zeigte er wegen übler Nachrede und Beleidigung an. Dank seines Zeitungsmonopols galt Reissmüller als einer der mächtigsten Männer der Stadt als unantastbar. „Wenn in Ingolstadt eine Person der Öffentlichkeit von Reissmüller nicht mehr unterstützt wird, muss sie verschwinden“, zitierte der Spiegel 1978 aus einer Forschungsarbeit über dessen Meinungsmacht.

NS-Vergangenheit in der Presse:Wenn die Aufarbeitung 80 Jahre später beginnt
Der Verleger der NS-Parteizeitung „Donaubote“, Wilhelm Reissmüller, wurde nach 1945 Verleger des „Donaukuriers“. Wie ihm das gelang, und warum er gegen alle Kritik in der Bundesrepublik noch mit höchsten Ehren ausgezeichnet wurde.
Aber Reichert ließ sich nicht einschüchtern. „Ich bin durch die 68er politisiert worden“, sagt der 72-Jährige. Sein Bruder war der legendäre Sparifankal-Sänger Carl-Ludwig Reichert. Man habe alles Autoritäre abgelehnt und gegen die alten Nazis rebelliert. Dass Reissmüller trotz seiner NS-Karriere einfach so weitermachen konnte, empfand Reichert als Unrecht. Er begann, alte Ausgaben des Donauboten zu durchforsten. „An manche Sätze erinnere ich mich noch ganz genau“, sagt er. Etwa an jenen Bericht über ein „ehrvergessenes Tauberfelder Mädchen, das sich mit einem Juden eingelassen hat“. Eine abstoßende Geisteshaltung sei in dem Blatt zum Vorschein gekommen.
Reichert forderte Reissmüller heraus. „Daß sie in meinem artikel so schlecht wegkommen, liegt weniger an mir, als an den geschichtlichen tatsachen“, schrieb er dem Verleger in einem offenen Brief ohne Großbuchstaben am 27. April 1973. In der Jugendzeitung rückwärts verschärfte er später den Ton: „im prinzip ist es fast unwesentlich, was ein dr. reissmüller vor 35 jahren an blut- und bodenideologie verspritzt hat.“ Entscheidend sei, was er nun mache, schrieb Reichert: „Korrekturversuche an der Geschichte“. Anfang der 1980er-Jahre entlarvten Reichert und weitere Rechercheure den Donaukurier-Chef als NSDAP-Mitglied, was Reissmüller bis zu seinem Tod verleugnete.
Nahezu ungehindert strickte er an der Legende, dass er in Wahrheit ein Nazi-Gegner gewesen sei, gar dem Widerstand gegen Hitler nahestand. Er instrumentalisierte Mitschüler Reicherts, diesen in einem Sonderdruck als „Lügenbaron von Ingolstadt“ zu diffamieren, Karikatur inklusive. „Da saß ich auf einer Kanonenkugel“, sagt Reichert, wie Münchhausen. Heute kann er darüber lachen.
Der Verleger bekämpfte seine Kritiker aber auch juristisch, vor Gericht behauptete er, nie Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Eine Falschaussage, die ihn letztlich 20 000 D-Mark kostete. Reissmüller klagte sich jahrelang durch die Instanzen, um Reichert und Co. verbieten zu lassen, ihn als Parteimitglied zu bezeichnen. 1987 lehnte das Bundesverfassungsgericht seine Verfassungsbeschwerde ab. Die Episode zeigt, wie viel Aufwand der Ehrenbürger unternahm, um die Wahrheit zu unterdrücken.
Die Promotionsakte räumte letzte Zweifel an der Nähe zum Nazi-Staat aus
Irgendwann schloss auch Gerhard Reichert, der nach dem Abitur eine Laufbahn als Rechtsanwalt verfolgte, das Kapitel Reissmüller. Ein halbes Menschenleben verging, bis er von neuen Recherchen des Journalisten Thomas Schuler erfuhr, der 2024 in der Buchreihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“ Reissmüllers NS-Karriere seziert hat. Schuler bekam Reissmüllers Promotionsakte in die Finger, um die sich auch Reichert damals erfolglos bemüht hatte. Die Dokumente räumten letzte Zweifel an der Nähe zum Nazi-Staat aus. Demnach trat Reissmüller 1933 dem NS-Studentenbund, der SA und der SS bei. Er war Mitgründer und Chefredakteur der Münchner Studentenzeitung, die „unbedingte Treue zur nationalsozialistischen Bewegung“ schwor.
Schulers Erkenntnisse stießen in Ingolstadt eine neue Debatte über den Umgang mit dem schattenhaften Ehrenbürger an. 2022 hatte der Stadtrat eine mehrjährige Forschungsarbeit zur NS-Zeit in Auftrag gegeben, die auch Figuren wie Reissmüller beleuchten soll. Weil mit einem Ergebnis aber erst in drei Jahren zu rechnen ist, forderten mehrere Stimmen rund um Grüne, SPD und Linke im Stadtrat eine raschere Entscheidung. Es seien genug Fakten auf dem Tisch. Die CSU und die Stadtverwaltung bremsten zunächst, wozu die Eile?
Doch am späten Dienstagnachmittag landete das Thema auf Vorschlag der Verwaltung auf der Tagesordnung. Der Stadtrat entschied mit einer Gegenstimme für die Aberkennung. Über die politischen Lager hinweg sprachen sich die Mitglieder dafür aus, die Stadt „von einer unsäglichen Diskussion zu befreien“, wie es Achim Werner (SPD) ausdrückte. Die karitativen und kulturellen Wohltaten Reissmüllers nach dem Krieg dürften nicht über dessen Rolle im NS-Staat hinwegtäuschen, sagte Christian Lange (UWG) und widersprach Äußerungen seines Fraktionskollegen Sepp Mißlbeck, der die Entscheidung gern vertagt hätte. „In diesem Fall muss ein Unrecht Unrecht genannt werden.“
Manfred Schuhmann (SPD) war als einziger im Gremium bereits 1976 im Stadtrat, als Reissmüller geehrt wurde. „Es war uns auch schon einiges bekannt“, sagte er. Deshalb habe er damals als eines von 14 Mitgliedern „dagegen gestimmt“. Agnes Krumwiede (Grüne) erinnerte an jene, die sich schon früh gegen Reissmüller gestellt hatten und dafür diffamiert wurden, Menschen wie Gerhard Reichert. „Ich hoffe, dass wir ihnen heute die Anerkennung für ihren Mut zur Wahrheit geben können.“