Ingolstadt:Kleinbürger unter sich

Vier Jahre lang haben 350 Kinder unter der Regie des Theaters Ingolstadt überlegt, wie der perfekte Ort zum Leben aussehen könnte. Was es dringend braucht: Barrierefreiheit, gleichen Stundenlohn für alle - und einen Flughafen für Papierflieger. Nun hat die "Kindolstadt" eröffnet

Von Yvonne Poppek, Ingolstadt

Nach einer halben Stunde ist es vorbei. Macht der Job keinen Spaß, gibt es keinen Grund, ihn weiterzumachen. Bezahlt wird das Geleistete trotzdem, ganz streng nach dem Gleichheitsprinzip: fünf "Ingolder" pro halbe Stunde, vom Richter bis zum Schreiner. Wer studiert, bekommt übrigens den gleichen Lohn. Und der Eintritt ins Museum ist frei. Es ist gut möglich, dass die meisten Wunden, die man in dieser Stadt sieht, vom Sanitätsdienst hingeschminkt wurden. Und in den Sternenhimmel kann man am helllichten Tag blicken, gemütlich auf einer dicken Matte liegend.

Es ist ein kleiner Traum, den das Stadttheater Ingolstadt für knapp zwei Wochen in der Exerzierhalle im Klenzepark aufgebaut hat. Ein Traum, der den Sieben- bis 13-Jährigen vorbehalten ist. Erwachsene sind darin die Ausnahme, nicht die Regel. Vielleicht ist das überhaupt das Beste an der "Kindolstadt", der Kinderstadt, die nach vier Jahren Planung seit Montag geöffnet ist und täglich bis zum 11. Juni außer am Sonntag besucht werden kann. Der Eintritt in die Spielwelt ist kostenlos. Jeder soll kommen dürfen, Barrieren sind nicht erwünscht.

Das Projekt Kinderstadt passt gut zum Ingolstädter Stadttheater und seinem Intendanten Knut Weber. Das Haus setzt auf den Nachwuchs, mit Webers Intendanz wurde die Sparte "Junges Theater" eingeführt und erst kürzlich feierte das Stadttheater sein 50-jähriges Bestehen mit einem Festival speziell für junges Publikum. Die Türen für Kinder und Jugendliche sind also weit geöffnet. Und nun erprobt das Haus mit ihnen noch in einem Stadtspiel die Regeln einer Gesellschaft. Einmalig allerdings wohl. "Der Aufwand für das Stadttheater ist sehr groß", sagt Projektleiterin Maria Mayer. Und ob die Stadt das Projekt übernimmt, bleibt bei der finanziellen Situation abzuwarten. Mayer rechnet mit Kosten von rund 200 000 Euro.

Derzeit aber ist die "Kindolstadt" geöffnet. Vorbild sei unter anderem "Mini München", "die Mutter aller Kinderstädte", wie Mayer sagt. Aber die Realisierung im Detail ist anders. Was es in Ingolstadt geben soll, hat das Stadttheater mit zwei sonderpädagogischen Schulen und in offenen Ferienworkshops mit etwa 350 Kindern erarbeitet. Ein Ergebnis: Barrieren gibt es kaum. Ganz praktisch nicht, da alles Wesentliche auf einer Ebene zu erreichen ist. Wer wissen will, warum, kann sich einen der Kinderrollstühle ausleihen, die es in der "Kindolstadt" gibt. Eine Ausgrenzung wollten die Kinder aber auch nicht im gesellschaftlichen Entwurf ihrer Stadt. "Die Kinder haben sehr auf Fairness geachtet", sagt Mayer. Alle Kinder sollten Zugang haben, alle sollten den gleichen Lohn erhalten, es sollte bewusst keinen Bürgermeister geben, sondern einen gewählten Kinderrat. Und sogar die Produkte, die verkauft werden - wenn sie denn nicht von den Kindern selbst gemacht werden -, sollen "Fair Trade" sein.

Natürlich haben sich die Kinder nicht nur die theoretischen Dinge überlegt, sondern auch erklärt, was es in ihrer Stadt zu geben hat. Verpflichtend, um den Ablauf zu gewährleisten, sind Arbeitsamt, Bürgerinformation und Bank. Darüber hinaus gibt es Werkstätten wie Schreinerei oder Filzerei, eine Kettcarrennstrecke, einen Streichelzoo, Universität, einen "geheimen Laden", ein Restaurant, Kletterwand. Sogar ein Flughafen wurde eingerichtet. Der ist allerdings nur für Papierflieger. Das Charmante an den einzelnen Einheiten ist, dass sie aus alten Kulissen gebaut sind. Die hohe Bücherwand der Universität ist aus "Mein Freund Harvey", ebenso die hyperrealistisch gemalten Kacheln im Krankenhaus. Besonders schön ist die Kuppel, die sich die kleinen Gestalter für ihr Kino gewünscht haben und die aus "Nathan der Weise" stammt. Den Eingang ziert eine samtig-rote Theke, die auch vor dem "Kindolstädter" Theater zu finden ist.

Etwa 300 kleine Spieler haben in der "Kindolstadt" gleichzeitig Platz, vormittags - außer am Samstag - ist die Exerzierhalle angemeldeten Schulklassen vorbehalten. Nachmittags von 14 bis 18 Uhr und am Samstag von 10 bis 18 Uhr kann kommen, wer mag. Nach dem Eintritt durch das "magische Portal" - auch dies ein Kinderwunsch - holen sich die kleinen Bürger ihren Pass, danach geht es auf Jobsuche. Im Idealfall findet ihn jedes Kind dort, wo es gerne arbeiten will, etwa bei der Feuerwehr, im Streichelzoo, als Beleuchter im Theater, als Sanitäter oder Töpfer. Manche der Stationen sind von Erwachsenen betreut, oft auch von freiwilligen Helfern oder Firmen, manche Anlaufstation liegt ganz in Kinderhand. Das verdiente Geld kann dann - nach Abzug der Steuern - in der "Kindolstadt" ausgegeben werden. An der Kinokasse etwa. Den Preis für den Eintritt legen die Kinder selbst fest. Der kann sich dann übrigens schnell auch ändern. "Inflation ist ein ständiger Begleiter der Kinderstadt", sagt Mayer. Selbst ein gebauter Traum hat wohl so seine kleinen Schikanen.

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