Gymnasium in Ingolstadt:"In Gnadenthal habe ich fast vergessen, dass ich Flüchtling bin"

Hintsa Solomon, ein Flüchtling aus Eritrea, der in Ingolstadt sein Abitur gemacht hat.

Hintsa Solomon hat Deutsch gelernt, Latein nachgeholt und sich mit Mathe-Testaufgaben abgekämpft. Mit Erfolg. Als einer von wenigen Geflüchteten in Bayern hat er das Gymnasium besucht und sein Abitur gemacht.

(Foto: Katharina Kausche)

Hintsa Solomon ist aus Eritrea geflohen, nun hat er das Abitur bestanden. Mit "Biss", unbedingtem Willen und der Hilfe engagierter Lehrer. Auch das nächste Ziel hat er bereits vor Augen.

Von Katharina Kausche, Ingolstadt

Als Hintsa Solomon seine Geschichte erzählt, spricht er mit ruhiger Stimme, langsam und bedacht. Nur mit den Händen gestikuliert er immer mal wieder energisch. Es wirkt wie ein Überbleibsel aus der Zeit, als er noch nicht so gut deutsch gesprochen hat. Das ist vorbei. Der junge Mann kann sich beinahe perfekt ausdrücken. 2015 kam er aus Eritrea nach Deutschland. Nun hat er das Abitur am Gnadenthal Gymnasium in Ingolstadt bestanden und das, sagt er, "ist das Schönste was ich meinen Eltern schenken konnte".

Der Abiturient ist eine Ausnahme. Nur wenige Geflüchtete besuchen in Bayern ein Gymnasium, noch weniger schließen es ab. Das berichten Lehrer; genaue Zahlen gibt es nicht. Sprachprobleme, Geldmangel, fehlende Betreuung - es gibt viele Gründe, warum sich unter Bayerns Gymnasiasten nur wenige Flüchtlinge finden.

Hintsa Solomon hat sich vier Jahre durch das deutsche Schulsystem "gekämpft", wie er sagt, hat Deutsch gelernt, Latein nachgeholt und mit Textaufgaben in Mathe gerungen. Es war für den 22-Jährigen nicht einfach, einen Platz am Gymnasium zu bekommen, nachdem er vor dem Militärdienst aus Eritrea geflüchtet war. 2015 kam er nach Deutschland und bald darauf nach Ingolstadt. An der Berufsschule, auf der er Deutsch lernte, fühlte er sich schnell unterfordert, wollte Extra-Aufgaben, mehr Mathe lernen und schließlich auf ein Gymnasium gehen, erzählt er. "Mein damaliger Schulleiter und meine Lehrer haben gesagt: Du schaffst das nicht." Also machte er sich selbst auf die Suche nach Gymnasien in Ingolstadt, rief bei den Schulen an und wurde jedes Mal enttäuscht. Damals habe er sich davon "runterziehen lassen, war kurz vor dem Aufgeben". Über einen Englischkurs für Flüchtlinge kam er an das Gnadenthal Gymnasium. "Das war in diesem Raum", erinnert er sich und zeigt auf ein Fenster zu seiner Rechten, als er im Innenhof von der Schulzeit erzählt.

Am Ende des Kurses bat Solomon den Lehrer, an der Schule bleiben zu dürfen, der versprach beim Schulleiter nachzufragen. Eigentlich kümmert sich Solomon um so etwas lieber selbst. Dass "man in Deutschland nur weiterkommt, wenn jemand anders für einen spricht", daran werde er sich nie gewöhnen, sagt er. "Dankbar bin ich natürlich trotzdem."

Eine Woche später hatte der Lehrer Solomon einen Termin beim Schulleiter organisiert. Und Vitus Lehenmeier wagte "das Experiment", bot Solomon an zunächst ein Jahr als Gastschüler auf das Gnadenthal Gymnasium zu gehen. Solomon nahm an. Mit ihm fing damals noch ein Flüchtling an, der aber bald "einen anderen Weg einschlagen wollte", wie Vitus Lehenmeier sagt, und die Schule wieder verließ um eine Ausbildung anzufangen. Für Solomon dagegen gab es nur den einen Weg. Er zieht Dinge durch. "Biss" nennen es seine Lehrer. Dafür ist er an der Schule bekannt. Auch in Eritrea sei das schon so gewesen. Für seine Familie, sagt er, war er "die letzte Hoffnung auf einen Schulabschluss". Das "letzte Licht", nachdem sein Vater und seine Brüder vom Militär eingezogen worden waren. "Deshalb habe ich immer viel gelernt." Als er in Eritrea nicht mehr zur Schule gehen konnte, sei er geflohen, sagt Solomon. Seinen Wissensdurst hat der 22-Jährige mit nach Deutschland genommen. Nach seiner Probezeit durfte Solomon am Gnadenthal Gymnasium bleiben, wiederholte die zehnte Klasse als regulärer Schüler und schaffte es in die Oberstufe. Einfach war das nicht. "Für jede einstündige Schulstunde brauchte ich zwei Stunden zum Nacharbeiten, damit ich den Stoff verstehe", sagt Solomon. Hilfe bekam er von Lehrern und vom Schulleiter. Vitus Lehenmeier organisierte Nachhilfe-Stunden für Solomon und half ihm, eine Wohnung zu finden, als Solomon ohne Zimmer dastand. "Das muss man sich mal vorstellen", sagt Solomon. "Ein Schulleiter, der sich so für einen Schüler einsetzt."

Ja, Einsatz, den habe es an seiner Schule von vielen Seiten gegeben. Und dann muss Solomon erst mal tief durchatmen. So nüchtern er über seine Flucht und die Distanz zu seiner Familie in Eritrea spricht - wenn es um seine Lehrer geht, merkt man, wie sehr ihn die Unterstützung bewegt. "Hätte ich diese familiäre Struktur in der Schule nicht gehabt, dann hätte ich es nicht geschafft", ist Solomon sich sicher. Auch, weil er an der Schule dem "Alltagsrassismus" entfliehen konnte, dem er sich in der Stadt ausgesetzt sah. "Ich wurde angemeckert, dass ich doch Deutsch sprechen soll oder wurde angespuckt", erzählt Solomon. "Aber in Gnadenthal habe ich fast vergessen, dass ich Flüchtling bin."

Trotz aller Unterstützung, es gab eine Zeit, da wurde ihm alles zu viel. "Er war wie ein Marathonläufer, der läuft und läuft und irgendwann geht ihm die Luft aus", erinnert sich seine Oberstufenkoordinatorin Beate Riedel, die sich lieber Oberstufenbetreuerin nennt und über Solomon als ihren "Schützling" spricht. Dass ihm irgendwann mal die Luft ausgehen musste, wird klar, wenn Solomon von seiner Freizeit erzählt. Neben dem Batzen an Schulstoff, den er nachmittags noch zu bewältigen hatte, half er beim Deutschen Roten Kreuz auf Volksfesten aus, nahm am MiMi-Projekt teil, in dem er lernte, ärztliche Befunde in andere Sprachen zu übersetzen, und half als Dolmetscher beim Job-Center und für seine eritreischen Landsleute aus. Schlaf, sagt er schmunzelnd, "hat da zeitmäßig nicht reingepasst". Irgendwann war er "dann einfach müde".

Im Frühjahr, als er sich gerade wieder gefangen hatte, da kam der Lockdown. Kein Computer, kein Drucker, keine sozialen Kontakte. "Das war hart", erinnert er sich. Nicht einmal seine Freunde und seine Familie konnte er am Anfang anrufen; das Handyguthaben war aufgebraucht. Aufgeben wollte er trotzdem nicht. Um seine Schulaufgaben runterzuladen, suchte er nach einem öffentlichen Wlan-Hotspot, und als dann drei Wochen vor dem Abitur die Vorbereitung in der Schule wieder losging, hängte er sich "noch mal richtig rein". Gar nicht mal knapp hat er mit einem Notendurchschnitt von 3,1 sein Abitur bestanden. Das nächste Ziel hat er schon vor Augen. Im Herbst möchte er studieren - am liebsten Industrielle Biotechnologie.

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