Süddeutsche Zeitung

Individualsport:Klimmzug um Klimmzug

Die Art und Weise, wie Menschen Sport treiben, hat sich mit der Zeit verändert, in der Stadt ebenso wie auf dem Land.

Von Philipp von Nathusius

Auf den ersten Blick mutet es an wie ein Abenteuerspielplatz, auf den zweiten wie ein Abklatsch des berühmten Muscle-Beach in Santa Monica. Der Trimm-dich-Parcours in den Münchner Isarauen ist gut besucht. Vor manchem Gerät stehen die Freizeitsportler sogar Schlange. Besonders beliebt: Die Klimmzugstange. Klimmzüge mit Aufschwung eignen sich bestens dafür - am besten mit freiem Oberkörper - die persönlichen Erfolge des Trainingssommers zur Schau zu stellen Freeletics nennt sich diese Fitnessvariante mit turnerischen Elementen - der Trend der Stunde.

Das Treiben auf dem Trimm-dich-Platz ist beispielhaft dafür, wie wir heute Sport machen - und dafür, wie sich das Sporttreiben in den letzten 70 Jahren entwickelt hat. Auf Klimmzugstange und Bauchmuskelbank tropft der Schweiß der Freizeitathleten und zeigt den Eifer nach mehr Leistungsfähigkeit, danach sich selbst zu optimieren. Die Trainingsflächen unter freiem Himmel stehen aber auch für mehr Unabhängigkeit, größere Freiheit und stellvertretend für eine nie da gewesene Vielfalt an Möglichkeiten. Das Ergebnis: Menschen treiben Sport individueller und häufig jenseits von Vereinen.

"In den Nachkriegsjahren ging es um Disziplin, Ordnung, Drill", sagt Beobachter Walter Hägele

Ist der Vereinssport, der noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren das Monopol auf Leibesübungen innehatte, ein Auslaufmodell? Thomas Kern ist Geschäftsführer des Bayerischen Landes-Sportverbands (BLSV). Dieser vertritt die Interessen der mehr als 12 000 bayerischen Sportvereine und ihrer 4,4 Millionen Mitglieder. "Die Welt des Sports hat sich so verändert, wie die Gesellschaft auch", sagt Kern. "Sportvereine müssen heute damit zurechtkommen, dass junge Menschen flexibel sein wollen und müssen." Eine Herausforderung sei das, vor allem in der Stadt. Im urbanen Raum sind Hobbyathleten weniger stark organisiert als auf dem Land, wo 35 bis 40 Prozent der Bürger Mitglied in einem Sportverein sind. In der Stadt sind es nur 20 bis 25 Prozent. Die Menschen in Bayerns Städten machen dabei nicht weniger Sport, im Gegenteil. Aber mehr für sich allein, so wie auf dem Trimm-dich-Platz.

Als der Sportwissenschaftler Walter Hägele, wie die Süddeutsche Zeitung übrigens auch, Jahrgang 1945, zur Schule ging, hieß der Sportunterricht Turnstunde. "In den Nachkriegsjahren ging es um Disziplin, Ordnung, Drill", erinnert er sich. "Die individuelle Leistung hat gar nicht gezählt." Und für Frauen gab es, bis auf ans Turnen gekoppelte Gymnastikgruppen, so gut wie keine Angebote im Freizeitsport.

Heute, sagt Hägele, sei die Sportwelt nicht nur komplexer - mehr Sportarten, mehr Anbieter -, sondern auch einsamer. Das will der BLSV so allerdings nicht stehen lassen. Der Verband hält die Zahl der Sportvereine im Freistaat dagegen. Diese ist so hoch wie nie zuvor. Beim BLSV heißt es, neue Sportarten führten mitunter sogar zu neuen Vereinsgründungen, etwa beim Nordic Walking. Aber Geschäftsführer Kern gibt auch zu, dass viele Vereine ums Überleben kämpfen. Das hat in den strukturschwachen Gebieten des Freistaates mit der Demografie zu tun. Aber auch mit einem Phänomen, das Sportwissenschaftler Hägele "Entsportlichung des Sports" nennt: Die Menschen verlieren zunehmend die Lust an verbandlich organisiertem Wettkampfsport.

Davon bleibt auch die Sportberichterstattung im Lokalteil der SZ nicht unberührt. Der Sport hat sich ausgebreitet, findet heute nicht nur in den Tabellen und Spielberichten statt, sondern immer häufiger auch in Reportagen über neue Sporttrends.

Walter Hägele hat alle Trends der vergangenen sieben Dekaden beobachtet, einige auch selbst mitgemacht. "Die Trends kamen immer aus den Städten, dann erst in die Fläche", sagt er. Neue Mannschaftssportarten waren selten darunter. Ob die Trimm-dich-Kampagne des Deutschen Sportbundes aus den Siebzigern, ob Jane Fonda, die in engem Polyester-Dress Aerobic populär machte und den Fitnessstudio-Boom der Achtzigerjahre mitauslöste, ob Skateboarding, Inlineskaten, Parkour oder Freeletics - all diese Trends entstanden in Großstädten und individualisierten den Sport.

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SZ vom 06.10.2015
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