Gesundheit in Bayern: Volkskrankheit Einsamkeit

Gesundheit in Bayern: Immer mehr Menschen in Bayern fühlen sich einsam - das könnte zu erntshaften Krankheiten wie Depressionen führen. (Illustration: Zsuzsanna Schemberg)

Immer mehr Menschen in Bayern fühlen sich einsam - das könnte zu erntshaften Krankheiten wie Depressionen führen. (Illustration: Zsuzsanna Schemberg)

Von Isolation betroffen sind längst nicht nur Ältere. Ärzte warnen vor den gesundheitlichen Folgen. Inzwischen fordern Politiker aller Parteien Konzepte für staatliche Maßnahmen gegen Einsamkeit. Konkrete Ideen gibt es bereits.

Von Dietrich Mittler

Heidemarie Wöllers hat keine Geschwister, sie war auch nie verheiratet. Und dennoch, um die Weihnachtstage herum war sie nicht alleine. Heiteres Lachen ertönte aus ihrer Wohnung, wenn Wöllers (Name geändert) ihre Freundinnen bei sich eingeladen hatte. "Ich bin leider die Letzte aus dieser Runde, die noch lebt", sagt sie.

Damit nicht genug: Mittlerweile sei ihr Hörvermögen beeinträchtigt, sie könne nur noch schlecht sehen, und das Gehen falle ihr schwer. "Das ist es, was die Menschen im Alter einsam macht", sagt die 88-Jährige. Gesellschaft leistet ihr jetzt in den besinnlichen Tagen ein pausbackiger Engel, den sie "vor vielen, vielen Jahren" auf dem Christkindlmarkt gekauft hat. Eigentlich, sagt Wöllers, müsse man in Nürnberg nicht einsam sein. Die Stadt biete so viele Möglichkeiten für Geselligkeit, aber eben nicht mehr für sie. "Man traut sich im Alter nicht mehr alleine fort, und das macht einen natürlich auch einsamer." Um sie müsse man sich aber keine Sorgen machen, sagt Wöllers. Ihr Glaube an Gott gebe ihr Kraft.

Nicht alle können das von sich behaupten. Michael Welschehold, Chef der Leitstelle des Krisendienstes Psychiatrie beim Bezirk Oberbayern, weiß aus Erfahrung, dass "vermehrt seelische Krisen im Dezember und Januar" auftreten - auch ausgelöst durch "Einsamkeitsgefühle". Dann gelte es, sich Hilfe zu suchen, in Oberbayern unter 0180/655 3000. Auch der Bezirk Mittelfranken bietet einen Dienst an (https://krisendienst-mittelfranken.de), der Hilfesuchenden zur Seite steht. Und von denen gibt es immer mehr.

"Wenn Einsamkeit eine Infektionskrankheit wäre, dann würde man angesichts der bereits vorliegenden Zahlen von einer Epidemie sprechen", sagt der Würzburger Bundestagsabgeordnete Andrew Ullmann. Im Mai dieses Jahres hatte der FDP-Politiker Antwort auf seine Bundestagsanfrage erhalten - zum Thema Einsamkeit und soziale Isolation. "Einsamkeit betrifft als Phänomen alle Bevölkerungsgruppen von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter", heißt es da in der Vorbemerkung, gefolgt von Studienergebnissen. Etwa jenen des Robert Koch-Instituts: Demnach gaben in einer Umfrage 4,2 Prozent der elf- bis 17-Jährigen an, sich oft oder immer einsam zu fühlen. 27,6 Prozent fühlten sich nur manchmal oder selten einsam. Und: "Weiterhin zeigte sich, dass Einsamkeitsgefühle häufiger von Mädchen als von Jungen erlebt werden und mit steigendem Alter zunehmen."

Aus den Ergebnissen des Deutschen Alterssurveys wiederum ergebe sich, dass die Einsamkeitsquote bei den 45- bis 84-Jährigen von 2011 bis 2017 stetig angestiegen sei. Im Jahr 2017 etwa fühlten sich nach Auskunft der Bundesregierung 9,2 Prozent aus dieser Altersgruppe einsam, 2011 waren es noch 7,9 Prozent. "Wir brauchen eine Strategie zur Bekämpfung der Einsamkeit", fordert Ullmann. Die Politik habe es hier mit einem "ganz neuen Phänomen" zu tun.

Auch Bayerns Landespolitiker beginnen sich intensiver mit dieser Problematik zu beschäftigen. "Wir wollen das zu einem Themenblock auf unserer Januarklausur machen - Einsamkeit im Alter", sagt Ruth Waldmann, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion. Bayerns Sozialministerin Kerstin Schreyer (CSU) hatte das Thema bereits im Juli dieses Jahres für sich entdeckt. In einer programmatischen Rede verkündete sie, die Probleme vereinsamter Menschen sollten stärker in den Fokus der bayerischen Sozialpolitik rücken.

17 Prozent

Für die repräsentative Umfrage "Wie einsam fühlen sich die Deutschen?" befragte das Marktforschungsinstitut "Splendid Research" im Januar 1006 Bürgerinnen und Bürger, wie oft sie sich einsam fühlen. Demnach fühlten sich 17 Prozent der Deutschen häufig oder ständig einsam. 30 Prozent verspürten zumindest manchmal Einsamkeit. Über die Gründe befragt, antwortete mehr als die Hälfte (51 Prozent), das liege an den aktuellen Lebensumständen - etwa zu viel Arbeit oder Erkrankung. 41 Prozent nannten auch ihre "spontane Stimmung" als Grund, 33 Prozent führten das Einsamkeitsgefühl auf ihren Charakter zurück. 17 Prozent meinten, andere seien dafür verantwortlich. 24 Prozent beklagten, durch digitale Kommunikationswege werde der Austausch unpersönlicher.

"Endlich", dachte sich da Franz Wölfl, der Vorsitzende der Landesseniorenvertretung Bayern. Monate vor Schreyers Ankündigung hatte Wölfl schon seine Stimme erhoben. "Einsamkeit ist streng genommen eine Krankheit", hatte er gesagt. So wie jeder Raucher sein Leben verkürze, verkürzten auch jene Menschen ihr Leben, die sich in die Einsamkeit zurückziehen. Der im niederbayerischen Eggenfelden praktizierende Hausarzt Gerald Quitterer sieht in Wölfls politischer Aussage einen wahren Kern. Quitterer - er ist Präsident der Bayerischen Landesärztekammer - berichtet von Patienten, die ihm gegenüber zunächst nur über körperliche Beschwerden wie Schwindel oder zu hohen Blutdruck geklagt hatten. "Nachdem alle körperlichen Ursachen für diese Beschwerden ausgeschlossen waren, stießen wir durch Gespräche darauf, dass hier Einsamkeit, Vernachlässigung oder fehlende Geborgenheit dahintersteckten", sagt er. Auch er ist davon überzeugt: Soziale Isolation kann krank machen - "bis hin zu Depressionen, die durch Einsamkeit ausgelöst werden".

Auch junge Menschen sind von Einsamkeit betroffen

Aus Wölfls Sicht ist es höchste Zeit, Einsamkeit als schwerwiegendes Problem unserer Tage wahrzunehmen. "Es ist Aufgabe des Staates und der Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass alte Menschen gar nicht erst in die Einsamkeit abdriften", sagt er. Und tatsächlich: Auf der Messe ConSozial in Nürnberg spielte Anfang November das Thema Einsamkeit und ihre Folgen eine Rolle. Allerdings ohne neue Impulse zu setzen: Sozialministerin Schreyer wiederholte ihre Statements vom Sommer, und einmal mehr kursierten die Zahlen, die die Ministerin schon Monate zuvor zitiert hatte. Demnach hätten in einer Umfrage 31 Prozent der Befragten im Alter von 25 bis 34 Jahren angegeben, sich einsam zu fühlen. Bei den 16- bis 24-Jährigen würden sich sogar 40 Prozent "oft einsam" oder "sehr einsam" fühlen.

Darauf angesprochen, welche Lösungen ihr vorschweben, um in Bayern einsamen Menschen effektiv helfen zu können, sagte Schreyer, sie wolle erst die Ergebnisse einer von ihrem Haus in Auftrag gegebenen Studie abwarten und dann handeln. Gerade in der Sozialpolitik müsse man auch "den Mut zur Langsamkeit" haben. Auf spätere Nachfragen an ihr Haus hieß es gereizt, das Sozialministerium plane "aktuell keine weitere Veröffentlichungen zum Thema Einsamkeit".

Wer weiterfragt, wird auf Lösungswege verwiesen, die die Bundesregierung auch schon dem Würzburger FDP-Politiker Ullmann unterbreitet hatte: Mehrgenerationenhäuser etwa, in denen Jung und Alt eng zusammenleben - als Bollwerk gegen die Einsamkeit. Ullmann genügt diese Antwort nicht. Das sei nicht mehr als ein "Blendwerk von Maßnahmen". In anderen europäischen Ländern hat der Kampf gegen die soziale Isolation von Menschen längst Fahrt aufgenommen. Im niederländischen Vlijmen etwa hat eine Supermarktkette eine Plauderkasse für einsame Menschen eingeführt. In Großbritannien ließ die frühere Regierungschefin Theresa May inmitten der Brexit-Wirren ein eigenes Ministerium zur Bekämpfung von Einsamkeit einrichten. Deutsche Medien berichteten daraufhin, in England gebe es nun "Geselligkeit auf Rezept".

Doch auch hier gibt es innovative Köpfe. Zu denen gehören der Psychotherapeut Thomas Elsen und sein Geschäftspartner Christian Klee. Beide planen in Kooperation mit Krankenkassen und mit Hochschulen den Aufbau einer Internetplattform. Grundidee: die Prävention von Einsamkeit und damit auch die Prävention von gesundheitlichen Risiken unter Einsatz von streng ausgewählten Helfern und Begleitern, die Einsame wieder ins Leben einbinden sollen. "Eine richtig große Geschichte", sagt Elsen.

In Bayern liegt es nun an der Professorin Dagmar Unz, im Auftrag des Sozialministeriums den Weg zu Konzepten gegen die zunehmende Einsamkeit zu erschließen. Unz, die an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt tätig ist, geht das Problem breit an. So etwa sei es sinnvoll, bürgerliches Engagement zu nutzen und durch Quartiersmanagement in Stadtvierteln Räume zu schaffen, die soziale Begegnungen erleichtern. Auch gelte es, entsprechende therapeutische Angebote für Menschen aufzubauen, bei denen die Einsamkeit chronisch zu werden drohe. "Ich denke, man muss da das Rad nicht neu erfinden", sagt Unz. Aber klar sei eben auch: Es muss etwas geschehen. "Wir Menschen sind Wesen, die ein soziales Umfeld brauchen, um zu überleben."

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