Acht Monate nach dem Tod eines wohnungslosen Mannes in Immenstadt beginnt am Mittwoch der Mordprozess gegen einen 17-Jährigen. Laut der Staatsanwaltschaft Kempten soll der Jugendliche den 53-Jährigen am 7. Mai 2024 mehrmals mit der Faust geschlagen und zu Boden gebracht haben, wo er mit dem Hinterkopf aufschlug. Einige Stunden später starb der Mann an einer schweren Hirnverletzung.
Dem Angeklagten wird Mord aus niedrigen Beweggründen vorgeworfen. Demnach soll der 17-Jährige den obdachlosen Martin H. schon vor der Tat mehrmals drangsaliert haben. Die Staatsanwaltschaft geht in ihrer Anklage davon aus, dass „der Angeklagte durch seine Handlungen Macht und Stärke demonstrieren wollte“. Entsprechende Chatnachrichten sollen ihn belasten.
Der Jugendliche, Jahrgang 2007, sitzt seit Mai in Untersuchungshaft. Bei seiner Festnahme soll er auch Polizisten angegriffen und beleidigt haben. Die Polizei führt ihn wegen früherer Delikte als „Intensivtäter“.
Der Prozess vor der Jugendkammer des Landgerichts Kempten findet aufgrund seiner Minderjährigkeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das Verfahren ist nicht ganz trivial. Denn nach dem Angriff war das Opfer noch in der Lage, zur nächsten Polizeidienststelle zu gehen, um die Tat anzuzeigen und eine Personenbeschreibung des Verdächtigen abzugeben. Seine Kopfverletzungen stuften die Beamten dort als „oberflächlich“ ein und ließen ihn ohne Hilfe wieder gehen. Am nächsten Morgen wurde der 53-Jährige bewusstlos am Boden einer Bankfiliale gefunden. Er starb wenig später in einer Klinik.
Nach SZ-Informationen war Martin H. vorerkrankt und soll in der Vergangenheit am Kopf operiert worden sein. Der Verteidiger des Angeklagten, Michael Eichinger, zieht den Mordvorwurf der Staatsanwaltschaft daher in Zweifel. „Selbst geschulte Personen bei der Polizei haben den Zustand des Opfers falsch eingeschätzt“, sagt er. Der mutmaßliche Angreifer habe die Konsequenz seiner Schläge nicht absehen können und den Tod nicht vorsätzlich herbeigeführt.
„Wie viele Personen haben auf das Opfer eingewirkt?“
Zumal nach Eichingers Darstellung nicht klar sei, ob sein Mandant den Obdachlosen allein angegriffen und somit den Tod verursacht habe. Der 17-Jährige soll aus einer Jugendgruppe heraus auf ihn losgegangen sein. Er werde zum Prozessauftakt selbst aussagen. Eichinger will auch einen anderen Beteiligten als Zeugen befragen. „Wie viele Personen haben auf das Opfer eingewirkt?“, will der Anwalt wissen. Es sei entscheidend, wer mit welcher Intensität zugeschlagen habe. Für die Staatsanwaltschaft hingegen steht der Zusammenhang zwischen den Schlägen des Angeklagten, dem Sturz sowie dem Tod des Opfers nach einer rechtsmedizinischen Untersuchung fest.
In Immenstadt löste der Tod von Martin H. im Mai große Erschütterung aus. Früher habe er erfolgreich beim FC Immenstadt Fußball gespielt, einen Fliesenleger-Betrieb gehabt und gutes Geld verdient, berichteten Vertraute des Opfers im vergangenen Jahr der SZ. Ins Korsett eines bürgerlichen Lebens habe er aber nie so ganz gepasst. Selbst für Menschen, die ihm sehr nahestanden, blieb er ein Rätsel. „Er war ein Freigeist“, sagte eine Person, die ihn gut kannte.
Irgendwann verschwand er aus der Allgäuer Idylle und tauchte im Winter 2021 plötzlich in einer RTL-Sendung wieder auf: in Berlin, wo er gemeinsam mit anderen Obdachlosen ein Straßencamp auf einer Verkehrsinsel aufgebaut hatte. „Die letzte freie Verkehrsinsel in Berlin-Kreuzberg“, sagte der Mann mit Rauschebart und verschmutzten Händen in die Kamera. „Fast ein Freistaat.“
„Jetzt schikaniert dich niemand mehr“
Im Film erklärte H. in rauem Allgäuerisch, wieso er sich für diesen Lebensstil entschieden habe. Er wollte „raus aus der Maschine“, frei sein von den Zwängen eines herkömmlichen Erwerbslebens. „Wenn ich keine Angst mehr vor nichts hab, weil ich nichts habe, dann können sie mir keine Angst mehr machen.“
Im Februar 2024 kam Martin H. zurück nach Immenstadt, lebte auch hier auf der Straße. Ein Zimmer im Obdachlosenheim, das ihm die Stadt mehrmals anbot, lehnte er ab.
Nach seinem Tod wuchs rund um den Immenstädter Bahnhof, wo er oft die Nächte verbracht hatte, eine Gedenkstätte mit vielen Kerzen und Bildchen. Auf ein Kerzenglas schrieb jemand: „Jetzt schikaniert dich niemand mehr.“