Süddeutsche Zeitung

Berufsbildung:Alte Fertigkeiten neu interpretiert

Einst gegründet als Stärkung strukturschwacher Regionen sind heutzutage Holzbildhauerschulen Nachwuchsschmieden für Künstler und Handwerker gleichermaßen.

Mit einer dröhnenden Motorsäge pult Kora Witt Holzspan um Holzspan aus dem großen Holzblock. Kopf, Rumpf und die ausgebreiteten Flügel eines mächtigen Adlers sind schon gut zu erkennen. Bald wird die zierliche 19-Jährige Motorsäge und Gehörschutz zur Seite legen, aus der etwas zu weiten Schnittschutzhose schlüpfen und mit Klöpfel und Bildhauereisen an die Feinarbeiten gehen.

Wenige Meter entfernt modellieren Witts Klassenkameraden gedärmartige Kunstwerke aus Ton, schnitzen mit scharfen Messern kleine Figürchen oder entwerfen mit sicherer Hand Skizzen auf großformatigem Papier - es herrscht Alltag in der Berufsfachschule für Holzbildhauer in Garmisch-Partenkirchen. Gerade einmal fünf bis sechs Schülerinnen und Schüler gibt es pro Jahrgang. In den anderen bayerischen Holzschnitzschulen in Oberammergau, Berchtesgaden, München und Bischofsheim in der Rhön sind die Klassen zwar etwas größer, dennoch ist die Betreuung auch dort sehr intensiv. Ein Aufwand, der viel Geld kostet. In Zeiten klammer Kassen sind die Schulen daher dankbar, dieses Jahr in das Landesregister des Immateriellen Kulturerbes der Unesco aufgenommen worden zu sein.

Damit will die Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturorganisation der Vereinten Nationen "lebendige Traditionen schützen" - etwa Bräuche, Feste, überliefertes Wissen oder Handwerkstechniken. Außerhalb Bayerns gibt es nur ganz vereinzelt noch weitere Holzschnitzschulen in Deutschland; in Betrieben wird nahezu kein Holzbildhauer mehr ausgebildet. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in Südtirol.

Gegründet wurden die bayerischen Schulen zur Stärkung strukturschwacher Regionen. Die älteste ist die Schnitzschule in Bischofsheim, die bereits Anfang der 1850er-Jahre eingerichtet wurde. "Die Idee war: Es gibt den kargen Landstrich Rhön, und die Dorfbewohner hatten die Notwendigkeit, in den hier sehr langen Wintermonaten ein zusätzliches Auskommen zu haben, weshalb sie Gebrauchsgegenstände, Spielzeug und Heiligenfiguren geschnitzt haben", erläutert Michael Kühnert vom Schulleitungsteam. Die Schule sollte diese Tradition professionalisieren und weltmarktfähig machen.

Das klappte auch zunächst, doch in den 1960er-Jahren wurde die Schule geschlossen. Der Siegeszug von Plastik und industrieller Fertigung hatte die Nachfrage nach handgeschnitzten Löffeln, gedrechselten Tellern und Holzspielzeug einbrechen lassen. Doch es dauerte nicht lange, bis sie wiederbelebt wurde: jetzt mit dem Fokus auf Kunst.

Natürlich ist auch der Markt für Holzskulpturen nicht gerade riesig, auf internationalen Kunstmärkten führen sie ein Nischendasein. Dementsprechend ist die Szene überschaubar. "Es ist schon ein exotischer Beruf, für den man sich ganz bewusst entscheiden muss. Auch gehaltstechnisch ist es eher ein schwieriger Job", schildert der Leiter der Schule in Partenkirchen, Florian Becker. Viele Absolventinnen und Absolventen schließen deshalb ein Studium der Kunst oder der Kunstpädagogik an, andere spezialisieren sich auf Restauration oder Bühnenbild, gestalten Spielplätze und Themenparks oder machen ganz was anderes. Nur ein Bruchteil macht sich gleich als freischaffender Bildhauer selbständig. "Das sind Ausnahmetalente, die das schaffen", dämpft Becker allzu hochfliegende Hoffnungen. Zugleich weiß Kühnert einige Beispiele von Absolventen aufzuzählen, die von der Holzbildhauerei gut leben können.

Den Schülerinnen und Schülern in Garmisch-Partenkirchen ist die Wahrscheinlichkeit langer Durststrecken durchaus bewusst. Viele sehen die dreijährige Schulzeit als Erstausbildung oder wollen im Anschluss höchstens in Teilzeit weiter als Bildhauerin oder Bildhauer arbeiten. Damit der Beruf nicht auf der Stelle stehen bleibt und somit perspektivisch ausstirbt, setzt Bischofsheim nicht nur auf perfekte traditionelle Handwerkskunst, sondern auch auf digitale Techniken. Fertigten die Schülerinnen und Schüler bislang nach der Skizze zunächst wie eh und je ein Tonmodell an, das beim Abgießen für das länger haltende Gipsmodell kaputtging und somit keine Varianten zuließ, können sie nun auch Modelle am Tablet kreieren und verändern.

Eine weitere App erlaubt das digitale Scannen eines physischen Modells, das zu einem dreidimensionalen Objekt zusammengeführt wird. Dieses kann dann von allen Seiten betrachtet und entweder wieder verändert oder mit einem 3-D-Drucker gedruckt werden. Ein weiterer Clou: Das Modell kann in Augmented Reality überführt werden. "Holzbildhauer gestalten oft öffentliche Plätze oder Kunst am Bau", erläutert Kühnert den Hintergrund. Mithilfe der Technik könnten sie nun ihre im verkleinerten Maßstab angefertigten Modelle scannen, digital vergrößern und virtuell so in ein Bild des Ortes, auf dem das Kunstwerk stehen soll, einfügen, dass es für den Betrachter auf dem Bildschirm wie das Endprodukt wirkt. Es ist sogar möglich, etwa um eine Skulptur auf einem Marktplatz "herumzulaufen". Dies dürfte so manchem Stadtrat die Entscheidung erleichtern - und den Absolventen der Holzschnitzschule vielleicht den entscheidenden Vorteil bei der Auftragsvergabe bringen.

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