Hohe Suizidrate in Bayern:Die Verzweifelten

In keinem Bundesland ist die Suizidrate so hoch wie in Bayern. Doch wieso töten sich ausgerechnet im wohlhabendsten Bundesland so viele Menschen? Selbst Fachleute sind ratlos.

Malte Conradi

Bayern liegt bei der Anzahl der Selbsttötungen seit Jahren an der Spitze aller deutschen Bundesländer. 2009 war sie sogar die höchste Deutschlands: In Bayern kamen auf 100.000 Einwohner 12,9 Suizide. Das entspricht 1749 Selbsttötungen. Der deutsche Durchschnitt lag 2009 bei 10,6 Selbsttötungen je 100.000 Einwohner. Das waren 9616 Menschen. Im Straßenverkehr kamen im selben Jahr nicht einmal halb so viele Menschen ums Leben wie durch Suizid.

Schattenspiel auf dem Friedhof St.Ulrich in München, 2010

Fachleute rätseln, woher die hohe Suizidrate in Bayern kommt. Die christlich geprägte Kultur wäre eigentlich ein Faktor für niedrige Zahlen.

(Foto: Robert Haas)

Nicht immer stand der Freistaat in der Statistik so schlecht da. Bis Mitte der neunziger Jahre war er noch unter den Bundesländern mit den niedrigsten Zahlen. Doch inzwischen weist er sogar eine höhere Suizidrate auf als die ostdeutschen Länder, in denen seit Beginn der Aufzeichnungen im 19. Jahrhundert immer außergewöhnlich hohe Zahlen festgestellt wurden und die zu DDR-Zeiten traurige Rekorde schrieben. Jetzt hat sich das geändert. In Brandenburg zum Beispiel kamen 2009 nur 8,9 Suizide auf 100.000 Einwohner.

Zwar ist die Anzahl derer, die sich das Leben nehmen, in den vergangenen 30 Jahren wie überall in Deutschland auch in Bayern stark gesunken - um fast 40 Prozent sogar. Anderswo aber war der Rückgang noch deutlicher als in Bayern. Im bayerischen Gesundheitsministerium ist man angesichts dieses beunruhigenden Phänomens ratlos.

Auf die Anfrage einer SPD-Abgeordneten antwortete das Ministerium schon im vergangenen Frühjahr: "Die Suizidrate Bayerns liegt seit vielen Jahren in allen Altersgruppen über dem Bundesdurchschnitt. Die Ursachen dafür sind nicht bekannt." Auch alle Fachleute verstummen bei der Frage nach einer schlüssigen Erklärung. "Einen vernünftigen Grund kann ich nicht nennen", sagt der Würzburger Psychiater und Vorsitzende des nationalen Programms zur Suizidprävention, Armin Schmidtke.

In der Forschung sind zwar einige Faktoren bekannt, die die Zahlen in die Höhe treiben. Im Fall von Bayern jedoch kann keiner von ihnen die hohe Rate erklären - die Theorie versagt fast vollständig. So werden hohe Arbeitslosigkeit und unsichere Lebensbedingungen mit höheren Suizidzahlen in Verbindung gebracht. In keinem anderen deutschen Bundesland jedoch ist die Arbeitslosenquote niedriger als in Bayern, in kaum einer anderen Region der Wohlstand größer.

Zahl der Selbsttötungen bei alten Leuten steigt

Auch die fehlende psychologische und psychiatrische Betreuung kann eigentlich nicht verantwortlich sein. Experten verweisen immer wieder darauf, wie wichtig es sei, dass Lehrer, Jugendarbeiter oder Altenpfleger darin geschult werden, einen sich andeutenden Suizid zu erkennen, um schnell professionelle Hilfe heranzuziehen. "Bayern hat in diesem Bereich schon immer viel getan", sagt Schmidtke. Unter Leitung des bayerischen Gesundheitsministeriums formiert sich derzeit ein "Expertenkreis Psychiatrie", der sich auch mit der Suizidprävention beschäftigen soll.

Die Forschung hat gezeigt, dass sich in Gesellschaften, die Selbsttötungen traditionell moralisch verurteilen, weniger Menschen das Leben nehmen als in solchen, die Suizid eher akzeptieren. Im christlich geprägten Bayern spricht auch dieser Faktor für eine niedrige Suizidrate. Als Agrarland müsste der Freistaat zudem der Theorie zufolge ebenfalls eher niedrige Zahlen aufweisen.

Fakt ist, dass die Zahl von Selbsttötungen bei älteren Menschen steigt. Zwar liegt der Anteil der über 60-Jährigen im Freistaat niedriger als im Bund. Doch gibt es einzelne Bundesländer, in denen wesentlich weniger Alte leben als in Bayern. Rechnet man diese unterschiedliche Altersverteilung nun aus den Zahlen heraus, ergibt sich ein etwas anderes Bild: Bayern liegt dann im Ländervergleich immerhin nicht mehr an erster, sondern nur noch an dritter Stelle - knapp hinter Thüringen und Bremen.

Auch innerhalb Bayerns lässt sich dieser Effekt beobachten. Manfred Wolfersdorf, Chefarzt der Bayreuther Klinik für Psychiatrie, erklärt die hohen Fallzahlen im Grenzgebiet zu Tschechien mit der Abwanderung junger Menschen. Wo hauptsächlich Ältere zurückbleiben, begehen mehr Menschen Suizid. Hohe Zahlen weisen auch das Berchtesgadener Land und das niederbayerische Regen auf. Eine einfachere Erklärung gibt es für Weiden in der Oberpfalz, wo seit langem die meisten Selbsttötungen Bayerns gezählt werden. Dort steht eine psychiatrische Klinik.

Angesichts ihrer eigenen Ratlosigkeit tun die Experten sich schwer, Forderungen an die Politik zu stellen. Nur eines fällt Psychiater Schmidtke ein: "Die Politik muss uns mehr dabei unterstützen, Hotspots zu entschärfen." Es hat sich nämlich gezeigt, dass an bestimmten Brücken, Türmen oder Bahngleisen immer wieder Suizide vorkommen. Sperrt man solche Orte ab, weicht nur ein kleiner Teil der Menschen, die hier Suizid begehen wollten, an einen anderen Ort aus. Die meisten können gerettet werden.

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