Süddeutsche Zeitung

Hohe Asten im Inntal:1000 Jahre Einsamkeit

Auf einem Plateau über dem Inntal bewirtschaftet die Familie Astl einen der höchstgelegenen Bauernhöfe Deutschlands. Nachbarn gibt es keine und jeder Einkauf im Tal erfordert einen logistischen Großaufwand. Spektakuläres gibt es dafür direkt vor der Haustür.

Von Heiner Effern, Hohe Asten

Morgens um sieben hat sich Christa Astl aus dem Haus geschlichen, weg von der Arbeit. Sie hat sich ein paar Minuten Luxus gegönnt. Der Sonne zusehen, wie sie mit ihren ersten Strahlen über dem Zahmen Kaiser ein frühes Feuerwerk veranstaltet. Ins Tal auf ein Bett aus Zuckerwatte blicken, die für die Menschen unten einen nebligen Start in den Tag bedeutet.

Die 45 Jahre alte Bäuerin und Gastwirtin hat diesen Augenblick mit ihrer kleinen Digitalkamera festgehalten. Wie eine Touristin, immer noch. Dabei lebt sie seit 25 Jahren auf der Hinterasten. "Das sind die Momente zum Genießen", sagt sie, als sie das Foto auf dem Display herzeigt. Auch Stunden später in der lauen Mittagssonne ist das Plateau hoch über dem Inntal bemerkenswert idyllisch. Die Wiesen, auf denen ein Haflinger herumspringt, sind für Mitte November erstaunlich grün. Die drei alten Bauernhöfe bilden mit ihnen eine natürliche Einheit. Doch dieser Eindruck bildet nur die halbe Wahrheit ab. Es ist der Eindruck, den die Besucher mitnehmen.

Einer der am höchsten gelegenen Bauernhöfe Deutschlands

"Die Landwirtschaft alleine reicht hier zum Überleben schon lange nicht mehr", sagt Christa Astl. Sie lebt mit ihrer Familie das ganze Jahr über am Berg, die Hinterasten gilt als einer der am höchsten gelegenen Bauernhöfe Deutschlands. 45 Rinder, 40 Schafe, zwei Pferde und zwei Schweine sorgen für den Unterhalt. Und die Besucher auf der Terrasse und in der Gaststube, die das ganze Jahr über mit den hauseigenen Produkten versorgt werden. "Die Landwirtschaft hier oben benötigt die Gastwirtschaft. Und umgekehrt ist das auch so", sagt die Bäuerin. Die Astls haben aus beiden ein Modell entwickelt, das ein Auskommen fernab der Zivilisation ermöglicht.

Sie sind die einzigen, die das hier oben geschafft haben - die Vordere und Mittlere Asten dienen längst einer Unternehmerfamilie als Feriensitz. Die Sommer auf 1100 Metern Höhe sind kurz, die Arbeit an den steilen Hängen ist mühsam. Spezialfahrzeuge sind nötig, manche Wiesen muss Bauer Peter Astl mit der Sense mähen. Er ist den ganzen Tag draußen. Was ihm bei manchem Besuch gelegen komme, das Reden mit Fremden liege ihm nicht so, sagt seine Frau. Hilfe von Nachbarn haben die Astls nicht: Es gibt keine. Dafür muss jeder aus der Familie ran, auch die drei Kinder. Gerade in der Wirtschaft, in der die Mutter selbst kocht. Mehr als fünf Minuten Luxus am Tag sind nicht drin.

Viele Kehren, 600 Höhenmeter

Schon gar nicht in den kommenden Monaten. "Den Winter könnte man von mir aus auslassen", sagt Christa Astl. Ihr Mann muss um fünf Uhr aufstehen, um mit der Fräse den Weg hinab ins Tal nach Flintsbach freizumachen. Viele Kehren, 600 Höhenmeter. Die Autos tragen dann Schneeketten oder Spikes. Wenn ein Schneesturm tobt, reicht der Griff zum Telefon, um die Lage zu sondieren: Ist die Leitung tot, liegen Bäume quer. "Dann lassen wir das Räumen auch mal einen Tag sein." Im Tal haben sie eine Garage, in der ein Fahrzeug für das Leben im Flachland steht. "Umsteigen, umladen, du musst jeden Einkauf logistisch planen", sagt Astl. Einfach mal so die Nachbarn für eine Stunde zu besuchen, ist nicht drin. "Freunde filtern sich, wenn man so lebt", sagt sie. "Die das verstehen, die bleiben. Die anderen verlieren sich."

Dabei weiß sie durchaus zu schätzen, dass die Technik vieles leichter macht. Seit 1000 Jahren leben Menschen auf dem Plateau, seit mehr als 500 Jahren die Vorfahren der Astls. Ihr Mann wuchs im Tal bei einer Tante auf, weil das Leben am Berg ohne Strom und nur mit Wasser aus dem Brunnen zu hart für Kinder war. Nur am Wochenende durften sie hinauf zu den Eltern. "Erst wir haben die Kinder wieder heim zu uns geholt", sagt Christa Astl. Zumindest eines will dauerhaft bleiben. Sohn Bernhard wird den Hof übernehmen.

Die Familiengeschichte wird also fortgeschrieben. Vielleicht findet Bernhard ja auch eine Frau, die sich auf das Leben auf der Hohen Asten einlässt. Eine wie seine Mutter. Die hatte als Bauerstochter aus dem Münchner Umland mit Bergen nichts im Sinn, bis sie ein Praktikum auf der Hinterasten absolvierte. "Da bin ich dann pappen geblieben", sagt sie. Neulich ist Christa Astl um elf Uhr abends mit einem Fernglas auf den Balkon hinaus gegangen. Sterne schauen. Nirgends, sagt sie, hat man einen besseren Blick in den Himmel.

Für den Tipp bedanken wir uns bei Michael Bösinger-Schmidt aus Brühl.

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SZ vom 21.11.2014/lime
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