Süddeutsche Zeitung

Zweiter Weltkrieg:"Die Flüchtlinge besaßen die elementarsten Dinge nicht mehr"

Am Ende des Zweiten Weltkriegs suchten knapp drei Millionen Menschen in Bayern Zuflucht. Vieles mussten sie zurücklassen, doch ein paar Dinge konnten sie mitnehmen. Diese sind in einer bewegenden Ausstellung in Hof zu sehen.

Von Kathrin Zeilmann, Hof

Ein rot kariertes Hemd, kleine Lederschuhe: Luitgard Pöpperl hat die Kleidungsstücke mitgenommen, als sie 1946 ihre Heimat in Böhmen verlassen musste. Eine Verwendung hatte sie eigentlich nicht mehr dafür. Denn ihr kleiner Sohn Reinhard, dem die Sachen gehört haben, ist bereits 1944 gestorben. Heute sind sie im Museum Bayerisches Vogtland in Hof zu sehen, als Teil einer bewegenden Dauerausstellung zum Thema Flucht und Vertreibung.

Im Stadtteil Moschendorf stand einst das größte bayerische Flüchtlingslager; im Museum erinnert ein karges Hochbett an das Leben dort. Was haben die Menschen mitnehmen können, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs fliehen mussten oder vertrieben wurden? Bibeln, Rosenkränze, abgewetzte Koffer oder auch eine Puppe sind darunter. Den Museumsmachern war es wichtig, die Dinge nicht nur zu zeigen, sondern auch die Geschichte der Menschen damit zu erzählen. Wie etwa die von Luitgard Pöpperl, die auch in ihrer neuen Heimat Naila die Kleidung ihres Buben in Ehren hielt.

Wenn jetzt angesichts der aktuell 4,5 Millionen Menschen, die die von Russland angegriffene Ukraine verlassen haben, das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR von der größten Flüchtlingsbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg spricht, werden Erinnerungen wach. Mehr als zwei Millionen Menschen kamen von 1943/44 an nach Bayern, wo die Bevölkerungszahl um etwa ein Viertel wuchs.

Zunächst waren es vor allem Frauen und Kinder aus dem zerbombten Ruhrgebiet. Dann folgten diejenigen, die vor der Roten Armee im Osten geflohen waren. Und schließlich kamen die Vertriebenen. Alle trafen keineswegs auf ein reiches, prosperierendes Land, sondern auf eine ebenfalls vom Krieg ausgezehrte Region und zerstörte Städte.

"Sie wurden in Lagern erst einmal aufgenommen. Viele waren in keinem sonderlich guten körperlichen und seelischen Zustand, sie wurden mit dem Nötigsten versorgt. Dann versuchte man, sie über das Land zu verteilen", erzählt Thomas Schlemmer, Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte. Das habe die Flüchtlingsverwaltung übernommen, die bereits 1945 unter Oberaufsicht der US-amerikanischen Militärregierung ins Leben gerufen wurde.

"Viele Städte waren schwer in Mitleidenschaft gezogen, also war der eher dünner besiedelte ländliche Raum das Hauptaufnahmegebiet." Dort wurden geflüchtete und vertriebene Menschen einfach bei der ansässigen Bevölkerung einquartiert. "In der Mehrzahl der Fälle funktionierte die Verteilung der Flüchtlinge über Zwangseinweisungen - das war eines der schärfsten Schwerter, das die Flüchtlingskommissare in der Hand hatten", erklärt Schlemmer. Dabei dürfe eines nicht übersehen werden: Es habe auch Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Mitleid gegeben. Aber natürlich: Wenn plötzlich wildfremde Menschen in die Kinderzimmer von Bauernhöfen einquartiert wurden, sei das nicht gerade auf helle Freude gestoßen.

Gerade auf den Bauernhöfen siegte dann aber vielerorts der Pragmatismus: Etliche junge Männer waren im Krieg gestorben, in Gefangenschaft geraten oder schwer verletzt worden. Man brauchte demzufolge Arbeitskräfte - die Geflohenen und Vertriebenen mussten mit anpacken. Im Hofer Museum ist die kleine Stube eines Hofes rekonstruiert: Auf ihren 16 Quadratmetern lebten die zwei geflohenen Schwestern Emmy und Liddy Künzel bis 1969, wie die Museumschefin Magdalena Bayreuther berichtet.

Eines der Probleme: "Güterknappheit auf allen Ebenen - ob Nahrungsmittel, Kleidung, Hausrat, Möbel", wie Schlemmer schildert. "Die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen besaßen die elementarsten Dinge nicht mehr. Die Menschen waren schlecht versorgt - und die eingesessene Bevölkerung musste mit ihnen teilen. Man kann sich vorstellen, was das in einer Zeit des Mangels bedeutete. Das war der Solidarität nicht unbedingt zuträglich."

Und auch sonst gab es Herausforderungen. Zwar waren die Neuankömmlinge Deutsche - also müsste es doch zumindest vor dem kulturellen Hintergrund funktioniert haben? Mitnichten. "Konfession spielte eine ganz große Rolle: Als Menschen evangelischer Konfession in katholische Siedlungsräume kamen und umgekehrt, dann entstand eine Spannungslinie, die sich bis in die 1960er-Jahre zog", sagt Historiker Schlemmer. Habe ein bayerischer katholischer Bub ein evangelisches Flüchtlingsmädchen geheiratet, habe das nicht selten Familien entzweit.

Auch sonst seien Unterschiede da gewesen - und nicht zuletzt stark eingewurzelte Vorurteile. Woran lag es, dass die Lage alles in allem dennoch nicht eskalierte? Schlemmer nennt hier zunächst die US-Militärregierung. Sie habe von Anfang an klargemacht, dass die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen keine vorübergehende Erscheinung seien und eines Tages wieder zurückkehren könnten. "Das hätten sich ja viele Flüchtlinge gewünscht. Aber es war klar: Diese alte Heimat würde es nicht mehr geben, zur Integration in Bayern bestand also keine Alternative." Und dann zog das "Wirtschaftswunder" herauf.

Zwar kam es 1952 zum Gesetz über den Lastenausgleich: Die eingesessene Bevölkerung musste demzufolge eine Art Sondersteuer leisten. Verteilungskämpfe blieben aber trotzdem aus, denn die Wirtschaft begann zu florieren. Schlemmer: "Der Staat hatte nun etwas zu verteilen, weil die Steuereinnahmen sprudelten. Das kam den Alteingesessenen und den sogenannten Neubürgern zugute und nahm viel sozialen Sprengstoff heraus. Gleichzeitig boomte der Arbeitsmarkt. Den meisten Flüchtlingen und Heimatvertriebenen gelang es, sich einzufinden, sich eine Existenz aufzubauen."

Dennoch: Es dauerte eine Generation, bis die gegenseitigen Vorbehalte weitgehend überwunden waren. Aber auch der Kalte Krieg half mit, wie der Geschichtsforscher betont: Es sei nun allen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen klar geworden, dass eine Rückkehr in die alte Heimat auf absehbare Zeit nicht möglich war.

Zurück nach Hof: Die Museumsräume stecken voller Geschichten und Schicksale. Lange habe es gebraucht, um die Exponate zusammenzutragen, schildert Peter Nürnberger von der Vogtland-Stadt. "Wir wollten die Geschichten dahinter erfahren." Viele davon sind traurig, erzählen von Traumata, vom Verlust der Heimat, von der gefährlichen Flucht. Aber sie zeigen auch Hoffnung. Denn schließlich ist es vielen Menschen gelungen, hier eine neue Existenz aufzubauen.

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