Die Ursache der tödlichen Flutkatastrophe in Simbach am Inn war offenbar ein verstopftes Rohr. Weil eine Unterführung des Simbachs durch Bäume und Sträucher verstopft war, hatte sich vor einem Straßendamm im Norden der Stadt ein gigantischer Stausee gebildet. Als dieser Damm brach, ergoss sich am Nachmittag des 1. Juni eine riesige Flutwelle über die Stadt. Fünf Menschen starben. Weite Teile der Altstadt wurden zerstört.
Wer neue Katastrophen verhindern will, muss die alten analysieren. Damit haben die Simbacher nun begonnen. Das Verhängnis hat seinen Ursprung in den frühen Siebzigerjahren. Damals wurde im Simbacher Stadtnorden das Schulzentrum errichtet und mit ihm der Straßendamm für eine Verbindungsstraße zur Stadt - mit dem Rohr für den Bach darunter.
Es handelt sich um ein Wellstahlrohr, wie es an sehr vielen Bächen und Gräben als Straßenunterführung verbaut ist. Nach Auskunft der Stadt war dieses Simbach-Rohr etwa drei Meter hoch, vier Meter breit und knapp 30 Meter lang. Drumherum wurden vom Flussbett aus etwa acht Meter Erdreich und Geröll aufgeschüttet, um darauf die Straße zur Schule zu bauen. Die Aufschüttung bildete gleichsam einen Damm, vor dem sich nun wegen der verstopften Röhre das Wasser staute - und der sich als zu schwach erwies.
Dass dieses Rohr und der Wall darüber 40 Jahre nach dem Bau der ganzen Altstadt zum Verhängnis würden, das konnte niemand kalkulieren. Niederschlagsmengen wie am Mittwoch vergangener Woche im Landkreis Rottal-Inn, etwa 110 Liter pro Quadratmeter über sechs Stunden, hatte bis dato kein Ingenieur für möglich gehalten. Die geborstene Straße hat in Simbach keinen offiziellen Namen, wird aber "Schulstraße" genannt, weil sie zum Schulzentrum führt. In ihr klafft jetzt eine 38 Meter lange Lücke, vom Wasser gerissen.
Wie sich die Entstehung der Flutwelle rekonstruieren lässt
Wann dieser Damm brach, lässt sich ziemlich genau rekonstruieren: Ein Augenzeuge kam am Hochwassertag um etwa 14.15 Uhr mit seinem Auto an die Stelle und wagte nicht mehr, die Straße zu befahren. "Ich sah, wie sich die Leitplanken bogen und die Straße zu bröseln begann", sagt der Rentner, der nicht namentlich genannt werden will. Er kehrte um. Etwa zehn Minuten später erreichte die Flutwelle die Altstadt. Ein Mitarbeiter der Bäckerei Braumiller telefonierte mit dem Handy, und als plötzlich die Verbindung abbrach, fotografierte er um 14.25 Uhr mit dem Mobiltelefon die monströse Welle, die ebenso plötzlich über die Stadt hereinbrach.
Der Stadtrat Max Winkler wohnt am Oberlauf des Baches und beobachtete, wie sich in der Mittagszeit das Wasser staute. Die Rinnsale aus den Tälern im Hinterland der Stadt waren zu reißenden Flüssen gewachsen und hatten Bäume und Sträucher entwurzelt - jenes Treibgut, das dann das Rohr unter der Schulstraße verstopfte. Das Gehölz verdichtete sich zu einem Pfropf, hinter dem der Simbach anschwoll.
Das Wasser habe sich vor der Schulstraßenaufschüttung binnen zwei Stunden zu einem See von etwa einem Kilometer Länge gestaut, sagt Winkler. Ein weiterer Augenzeuge, ebenfalls Rentner, erzählt, der Stausee sei bis zu 100 Meter breit gewesen, was sich auch eine Woche nach dem Hochwasser an der Vegetation ablesen lässt. Er rechnet vor, dass mit dem Dammbruch 150 000 Kubikmeter Wasser in die Stadt geschossen sein könnten. Die Augenzeugen scheuen Öffentlichkeit, weil sie fürchten, in einen Rechtsstreit um Schuldfragen involviert zu werden.
Stadtrat Winkler und die zwei Rentner sind sich einig: Hätte sich diese eine Röhre nicht verstopft und den Stau und den eklatanten Druck auf den Straßendamm verursacht, wäre dieses Hochwasser glimpflicher verlaufen: "Klar war es ein Jahrtausendhochwasser, das mindestens genauso viel Schaden angerichtet hätte wie Überschwemmungen im vergangenen Jahrhundert", sagt einer der Rentner, "aber es hätte keine Toten gegeben, die ja von der Flutwelle blitzartig überrascht wurden." Frühere Hochwasser seien durch Rückstau aus dem Inn im Süden verursacht worden, da auch der Inn überschwemmt war. Diesmal aber hätte der Inn das Simbach-Hochwasser problemlos aufnehmen können.
Im Simbacher Rathaus scheint schon jetzt klar zu sein, dass der Bach in seinem Oberlauf künftig mehr als ein Rohr bekommt, eine Brücke womöglich. "Das gleiche wieder hinzubauen würde beim gleichen Ereignis zum gleichen Ergebnis führen", sagt Stadtbaumeister Wolfgang Hengge. Die tödlichen Simbacher Erfahrungen mit dem Rohr und dem Straßendamm könnten auch in anderen Kommunen zum Tragen kommen, die vor der Frage stehen: Brücke oder Dammaufschüttung?
Ein Kubikmeter Wasser hat ein Gewicht von einer Tonne. Wenn die laienhaften Berechnungen des Rentners auch nur annähernd zutreffen, kamen bis zu 150 000 Tonnen Wasser und Schlamm auf Simbach hernieder. Angesichts der Handyfotos des Bäckerei-Mitarbeiters wirken die Berechnungen plausibel. Michael Kühberger, der Leiter des Wasserwirtschaftsamtes in Deggendorf, hält die Zahlen für sehr hoch gegriffen und die These der Simbacher vom Schwall für gewagt. Man müsse den Ablauf der Katastrophe noch prüfen und sei dazu auch auf Augenzeugen angewiesen.
Das riesige Wellstahlrohr von der Schulstraße verlor seinen Platz. Es landete etwa 40 Meter weiter unten. Der Pfropf aus Gehölz, der es verstopfte, steckt immer noch drin. Die Aufschüttung darüber? Die liegt jetzt in den Häusern und Kellern der Altstadt. Als Schlamm.