Historische Aufnahmen:Die Welt aus der Sicht von Fliegerabteilung 304

Bayerische Flieger fotografierten in den Jahren 1917 und 1918 den Nahen Osten. Die Fotos sind jetzt im Internet zu sehen - und bieten einzigartige Einblicke in das Leben im damaligen Palästina.

Hans Kratzer

Als Ende Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, hatte die Fotografie bereits ein halbes Jahrhundert Entwicklungsgeschichte hinter sich. Ausgerechnet der Krieg eröffnete nun neue Perspektiven, denn das Militär hatte schnell erkannt, dass es aus der Luftbildfotografie strategische Vorteile ziehen konnte. Immerhin ermöglichte sie ihm ungeahnte Einblicke in die Angriffs- und Verteidigungsarbeit des Feindes.

Palästina

Die beeindruckend detaillierten Fotos der bayerischen Soldaten sind für Historiker eine wertvolle Quelle: Sie eröffnen neue Erkenntnisse und Einsichten in das alte Palästina.

(Foto: Bayerisches Hauptstaatsarchiv)

Die Kriegsmaschinerie griff also schon vor hundert Jahren auf eine Vorform der populären Internetprogramme Google Earth und Google Street View zurück. Diese frühen Luftaufnahmen revolutionierten die Taktik der Kriegsführung.

Ein Jahrhundert danach wird deutlich, dass die Glasnegative der Fliegertruppen auch einen unschätzbaren historischen Wert besitzen. Leider sind viele Bestände verlorengegangen. Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München aber haben fast 3000 Luftaufnahmen, die eine bayerische Fliegerabteilung in den Jahren 1917 und 1918 in Palästina gemacht hatte, die Zeiten überdauert.

Musste man sich bisher nach München begeben, um diese einzigartigen Fotografien zu studieren, so ist das künftig nicht mehr nötig. Die Originale wurden jetzt nämlich in einem Kooperationsprojekt der Israelitischen Vermessungsverwaltung, der Generaldirektion der Archive Bayerns und des Bayerischen Landesvermessungsamts vollständig digitalisiert und für jedermann zugänglich in das Internet eingestellt (www.gda.bayern.de).

Zu dem Bestand zählt etwa jenes unscheinbare Foto, das Ende 1917 während eines Überflugs südlich der Stadt Sidon im heutigen Libanon aufgenommen wurde. Zu sehen ist auf den ersten Blick nur der hintere Teil des Flugzeugs und die darunterliegende Landschaft am Mittelmeer.

Zoomt man aber per Mausklick in das Bild hinein, so erkennt man auf einer Straße eine große Gruppe von Fußgängern, dazu im Gelände verstreut mehrere Bauern und Esel. Vom Kriegsgeschehen ist weit und breit nichts zu spüren. Wegen der brillanten Auflösung der Fotos treten feinste Details hervor. Viele Frauen tragen Sonnenschirme bei sich, selbst ihre Kleidung kann man studieren.

Es handelt sich hierbei um die ersten Luftbilder, die überhaupt in Palästina gemacht wurden. Kein Wunder, dass Archäologen, Geologen, Historiker und Orientalisten fast ehrfürchtig staunen - aber nicht nur ihnen eröffnen sich nun neue Erkenntnisse und Einsichten in das alte Palästina.

Weltweites Interesse an einzigartigen Bildern

Von 1917 an waren zur Unterstützung der osmanisch-türkischen Bodentruppen unter anderem deutsche Fliegerabteilungen im heutigen Syrien und in Palästina stationiert. Auch die bayerische Fliegerabteilung 304 wurde dort bis September 1918 mit ihren Doppeldeckern zur Luftaufklärung eingesetzt. Dabei saß jeweils ein Flugbeobachter hinter dem Piloten und bediente die schwere Kamera, sich bisweilen gefährlich über den Rumpf des Fliegers beugend.

Die bayerischen Flieger dokumentierten auf Glasplatten-Negativen einen großen Teil des heutigen Israels, dazu die Randgebiete Syriens mit Damaskus, die Küste des Libanon, Teile Jordaniens und sogar den Suezkanal und die Pyramiden bei Kairo.

Auf den Fotos sind viele historische Details zu erkennen, die gerade die Flugroute kreuzten, zum Beispiel die Ruinen von Kreuzfahrerburgen. Eher zufällig wurden einige der ersten jüdischen Kolonien festgehalten, deren Bedeutung man damals noch nicht erahnen konnte. Diese Einblicke sind umso aussagekräftiger, als viele dieser Gebiete heute mit Siedlungen überbaut sind.

"Die Piloten waren sich durchaus bewusst, dass sie ein ungewöhnliches Land beflogen", sagt Michael Unger von der Generaldirektion der Archive Bayerns, die das Digitalisierungsprojekt federführend betreut. Vor allem die Aufnahmen von Jerusalem, Jericho, Caesarea und dem Toten Meer zeugen davon, dass die Flieger auch an einer nichtmilitärischen Dokumentation interessiert waren. Sie erfassten gezielt religiöse Stätten wie den Felsendom und christliche Kirchen.

Es grenzt an ein Wunder, dass die Glasplatten-Negative bei dem monatelangen chaotischen Rückzug der deutschen Truppen Ende 1918 unversehrt nach München gelangten. Im Gegensatz zu den Beständen vieler anderer Truppen überstanden die Bilder der bayerischen Fliegertruppe 304 auch noch die Bombenangriffe im 2. Weltkrieg.

Heute stößt dieser einmalige Bestand auf weltweites Interesse. Margit Ksoll-Marcon, die Generaldirektorin der Archive Bayerns, ist überzeugt davon, dass die Bilder der kleinen bayerischen Fliegerabteilung 304 noch viele Geheimnisse offenbaren werden - zumal ein vor Jahren aufgetauchtes Kriegstagebuch die Luftaufnahmen aufs wertvollste ergänzt. In Israel werden in einer wissenschaftlichen Sisyphusarbeit nun die Geodaten dazu erarbeitet.

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