Süddeutsche Zeitung

Historische Jagd:Halali zur großen Hatz

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1976 versetzten ausgerissene Wölfe die Region in Aufruhr, da ein Kind gebissen wurde.

Von Karl Stankiewitz

Plötzlich wird der Hund unruhig. Da sieht Eric Zimen den Wolf. Kaum 30 Meter vom Gehegezentrum entfernt, duckt er sich im verschneiten Dickicht und läuft davon. Und schon reißt der Hund sich los, um dem Wolf nachzujagen. Zimen hat noch erkannt, dass es sich um eines der acht am 8. Januar 1976 aus dem Nationalpark entwichenen Tiere handelt, um das Weibchen namens "Schönbrunn". Offenbar ist die Wölfin jetzt läufig. Vergebens schaltet Zimen das Tonband mit dem lockenden Wolfsgeheul ein. Die Wölfin bleibt verschwunden.

In einen Schafspelz gehüllt, die Beine durch hohe Wollgamaschen geschützt sitzt der schwedische Wolfsforscher Zimen vor seiner Schäferhütte am Gehegeausgang und zieht ein erstes Fazit der aufsehenerregenden Wolfsflucht: "Auf jeden Fall ist dieser unfreiwillige Versuch für die Frage der Wiedereinbürgerung von Raubtieren in Mitteleuropa sehr wertvoll." Und Hans Bibelriether, Direktor des Nationalparks Bayerischer Wald, fügt hinzu: "Wir sind jetzt überzeugt, sie würden überleben, wenn sie nicht doch noch durch Jäger abgeknallt werden."

Die regionalen Behörden ordnen jedenfalls eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen an, wobei von einem Abschuss noch nicht die Rede ist. Sie werden wieder zurückgenommen, nachdem sechs namhafte Zoologen unter Hinweis auf Italien, Jugoslawien und Polen gutachtlich bestätigten, die Ausreißer seien für Menschen vollkommen ungefährlich. Was sich für die Wissenschaft und für Naturschützer als einzigartige Chance anbietet, ist für Bevölkerung, Jäger und viele Amtsträger im Bayerischen Wald zu einem Problem erster Ordnung geworden. "Beim ersten Zwischenfall mit einem Wolf ist unser ganzer mühsam aufgebauter Tourismus kaputt," meint Hans Kammermeier, Polizeimeister und Verkehrsamtsleiter von St. Oswald. Schon gebe es die ersten Absagen von Urlaubsgästen. "Lassen Sie die Wölfe abschießen und kaufen Sie neue, die hinter sichere Gitter kommen," empfiehlt Kammermeier dem schwedischen Verhaltensforscher.

Der erste Zwischenfall alarmierte Bevölkerung und Amtsträger am 20. März 1976. Der vierjährige Roman Frisch spielte mit anderen Kindern auf einem Campingplatz bei Forstwald, da näherten sich zwei "hundeähnliche Tiere" und beschnupperten die Kinder. Als sie schrien und wegliefen, folgt einer der Wölfe, packte Roman an der Hose und wollte ihn wohl in den Wald schleppen. Ein 13-jähriger Bub sprang beherzt hinterher und bekam die Arme des Vierjährigen zu fassen. Wolf und Kind zogen nach verschiedenen Richtungen, wobei der Kleine eine leichte Bisswunde erlitt. Schließlich gelang es dem Helfer und einigen Erwachsenen, das Tier zu verjagen.

Das hieß: Halali zur großen Wolfshatz. Noch an jenem Sonntag wies Bayerns Innenminister Bruno Merk die Polizei in den Landkreisen entlang der Grenze an, die sechs umherstreunenden Tiere abzuschießen. "Wenn auch der Zwischenfall möglicherweise nicht als Beweis für ein grundsätzlich aggressives Verhalten der Wölfe ausgelegt werden kann, so kann auch eine ,spielerische' Gefährdung von Kindern nicht hingenommen werden," begründete das Ministerium den Schießbefehl. 300 Bereitschaftpolizisten plus Jäger suchten nach den Tieren. Fünf wurden geschossen, drei entkamen über die Grenze. Sie wurden im Verlauf der nächsten zwei Jahre in aller Stille erlegt.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2017
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