Letzte-Hilfe-Kurse„Jeder stirbt auf seine einzigartige Weise“

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Angehörige, Hausarzt oder Freunde - ein Mensch, der stirbt, sollte von vielen mitfühlenden Menschen umgeben sein, sagt Referentin Nicole Müller.
Angehörige, Hausarzt oder Freunde - ein Mensch, der stirbt, sollte von vielen mitfühlenden Menschen umgeben sein, sagt Referentin Nicole Müller. (Foto: Nina von Hardenberg)

Wir wissen wenig über das Sterben. Das Thema macht vielen Menschen Angst. Letzte-Hilfe-Kurse wollen das ändern. Zu Besuch bei einem Seminar von Sterbe-Experten, die den Tod als ein herausragendes Ereignis im Leben feiern, dem wir mehr Raum geben sollten.

Von Nina von Hardenberg

Nicole Müller hat als Palliativ-Fachkraft unzählige Menschen beim Sterben begleitet. Erzählten aber will sie an diesem Abend von dem stillen Tod einer älteren Dame, den sie als junge Krankenschwester erlebt hat. Es waren die Apparatemedizin-gläubigen 1990er-Jahre. Für den Tod gab es in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete, keinen Platz. Sterbende schob man in ihren Betten ins Bad – aus dem Weg und aus den Augen. Jene alte Dame aber verschied nachts um 12 Uhr allein in ihrem Zimmer. Müller hatte Nachtschicht und sah auf dem Monitor im Schwesternzimmer, wie die Herzfrequenz sank. „Als ich das Zimmer dann betreten habe, war da alles voller Liebe“, sagt sie.

Ein überwältigendes Gefühl von Liebe und Frieden angesichts eines einsamen Todes. Ein letzter Atemzug als ein greifbares und in diesem Fall schönes Ereignis.  Für die Zuschauer des Letzte-Hilfe-Seminars in Neu-Ulm klingt die Geschichte fast ein wenig zu romantisch. Die Referentin Müller aber trägt sie mit großer Überzeugung und dem Gewicht ihrer ganzen Hospizerfahrung vor. Für sie sei das fast eine Art Passion geworden, ihr Gefühl von damals weiterzugeben: Man braucht keine Angst zu haben. „Der natürliche Tod macht keine Schmerzen“, sagt sie. Im Gegenteil: „Sterben kann sehr ruhig sein.“

Willkommen im Letzte-Hilfe-Kurs im schwäbischen Neu-Ulm. Draußen wird es an diesem kühlen Herbsttag schnell dunkel. Drinnen bringen Nicole Müller und eine Kollegin Licht in das noch immer angstbesetzte Thema Tod. Und manch einem der knapp 20 Zuhörer wird es dabei erstaunlich warm ums Herz.

Die Gesellschaft habe sich vom Thema Tod wegbewegt, erklärt Referentin Müller. „Wir leben, wie wenn wir nie sterben würden.“ Wegschauen aber erzeuge Hilflosigkeit. Ziel des Letzte-Hilfe-Kurses sei es deshalb, wieder Wissen um die letzte Lebensphase in die Bevölkerung zu bringen, damit der Tod wieder Teil des Lebens wird.

Die Teilnehmer in Neu-Ulm sind zum Großteil aus Neugierde hier. Drei von ihnen suchen Rat, weil sie in ihrem Umfeld einen schwerkranken oder sterbenden Menschen haben. Der Kurs wird im Rahmen der Bayerischen Demenzwoche angeboten. Er ist aber nur einer von Hunderten derartigen Vorträgen, die in den vergangenen Jahren überall in Deutschland und auch in anderen Ländern angeboten wurden. Die Idee für diese häufig kostenlosen Basis-Seminare zum Sterbegeleit hat der Palliativmediziner Georg Bollig entwickelt. Seine gemeinnützige Organisation Letzte Hilfe bietet auch einen Überblick über die aktuell angebotenen Seminare. Fast jeder belegt irgendwann mal einen Erste-Hilfe-Kurs und lernt dabei, Leben zu retten. Genauso wichtig aber wäre ein Kurs, der Menschen befähigt zu helfen, wenn Retten nicht mehr möglich ist, so die Idee.

Wer Sterbende begleiten will, muss zunächst erkennen, dass ein Sterbeprozess beginnt. Mehr als die Hälfte aller Menschen stirbt in der Klinik. Auch heute noch geht der Sterbeprozess da manchmal unter, so hat es Müller bei ihrer eigenen Mutter erlebt. Die behandelnde Ärztin hatte die Zeichen zwar erkannt, aber von sich aus kein Gespräch gesucht. Gut also, wenn man sich als Angehörige selbst auskennt.

Einige Zeichen eines nahenden Todes sind den Zuhörern an diesem Abend bekannt: das helle Dreieck zwischen Mund und Nase etwa oder die dunkel anlaufenden Beine. Letzteres sei für sie immer das klare Signal, alle Angehörigen ans Bett zu holen, sagt Müller. Doch schon davor kann etwa der soziale Rückzug ein Hinweis auf einen beginnenden Sterbeprozess sein. Statt sich mit an den Tisch zu setzen, bleibt der vertraute Mensch plötzlich lieber im Bett liegen. Die Gespräche des Alltags scheinen ihn weniger zu interessieren. Er richtet den Blick nach innen. Auf den Rückzug kann eine Phase extremer Unruhe folgen, in der der Kranke immer wieder aufstehen will. Häufig kommt eine extreme Schwäche und Müdigkeit hinzu, manchmal eine veränderte Bewusstseinslage. Einige Menschen halluzinieren oder sehen längst verstorbene Freunde und Verwandte.

Müller hat viereinhalb Jahre als Palliativfachkraft im Hospiz Illertissen gearbeitet und koordiniert seither die ambulante Hospizgruppe Illertissen. Sie weiß deshalb auch: Kein Tod ist gleich. „Jeder stirbt auf seine einzigartige Weise“, sagt sie.  Manche stürzt der Abschied vom Leben in Depression. Diese Trauer um alles, was man lieb hatte, kann man niemanden abnehmen, sagt Müller, „Wir können das nur einfühlsam begleiten.“

Ein normaler Sterbeprozess ist friedvoll

Bleiben, gemeinsam aushalten, auch wenn der Sterbende nicht mehr ansprechbar ist – das ist die Aufgabe von Sterbebegleitern, so wie der Letzte-Hilfe-Kurs sie definiert. Das Kursprogramm verweist hier auf Henry Dunant, den Begründer der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung, der auf dem Schlachtfeld schwer Verwundeten beigestanden haben soll, die ihn anflehten, an ihrer Seite zu bleiben, damit sie nicht allein sterben mussten. Der Körper nehme bis zum letzten Atemzug Geräusche wahr, sagt Dozentin Müller. Ähnlich wie ein fieberndes Kind sich sicher fühlt, wenn es die Eltern im Hintergrund hört, seien auch Menschen im Sterbeprozess häufig dankbar, wenn jemand über sie wache.

Dabei lernen die Teilnehmer, dass ein normaler Sterbeprozess friedvoll ist. Es gibt Krankheiten, die Schmerzen oder Atemnot hervorrufen, die dann behandelt werden müssen. Dass ein Sterbender aufhört, zu essen und zu trinken, muss dagegen niemanden beunruhigen, im Gegenteil: Ohne Trinken fällt der Körper in ein Nierenversagen, was Glückshormone auslöst.

Die Angst vor dem Tod, sie gründet in Unwissenheit, so die Botschaft. Sterben muss nicht schlimm sein, umso weniger, wenn es einfühlsam begleitet wird. Hierfür aber brauche es die Unterstützung vieler Menschen. Referentin Müller malt das Bild einer „einfühlsamen Gesellschaft“, mit Freunden, die die Angehörigen unterstützen. Aber auch mit Nachbarn, die klingeln, wenn sie den alten Herrn länger nicht gesehen haben. Mit Menschen, die aufeinander achtgeben wollen. Die ambulante Hospizgruppe Illertissen, die den Letzte-Hilfe-Kurs veranstaltet hat, steht genau dafür. Sie bildet ehrenamtliche Sterbehelfer aus und schickt sie zu den Sterbenden. Das kann auch stundenweise geschehen, damit die Tochter oder der Ehemann mal eine Auszeit nehmen können, betont Müller. Sie seien genug Menschen, die helfen könnten. „Es ist eher so, dass viele nicht wissen, dass es uns gibt.“

Wer hilft einem auf dem letzten Weg? Sich da auszukennen ist nicht einfach, das gibt auch die Referentin zu. Denn das Hilfsnetz besteht aus vielen Anlaufstellen, die sie nun in Form bunter Karten an die Pinnwand heftet. Da findet sich der Hausarzt und die von den Krankenkassen finanzierten Pflegedienste. Bei schwerer Krankheiten mit Schmerzen oder Atemnot kommen zudem Teams der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) zu den Menschen nach Hause. Oder diese Menschen gehen in ein Hospiz.

Ist der Sterbende dann gut versorgt, bleibt seinen Begleitern Zeit zum Abschiednehmen. Referentin Müller ermutigt die Zuhörer, ein Gespräch über Tod und Trauer zu suchen. Es sei nicht immer leicht, dafür die passende Gelegenheit und auch den Mut zu finden. Das sei aber ein Stück gemeinsame Vortrauer, die einem später helfe. „Folgen Sie Ihrer Intuition“, rät sie und „haben Sie ein offenes Herz.“

Das gilt auch für den Moment des Todes, den Müller und ihre Co-Referentin unzählige Male erlebt haben. Ein heiliger Moment sei das, mit einer ganz besonderen Aura. Er gehört ganz dem Verstorbenen. Auch hier raten die beiden, sich Zeit zu nehmen und noch einen Moment bei dem Verstorbenen zu sitzen, um zu realisieren, dass hier gerade ein Mensch gegangen ist. Rituale seien in solchen Momenten hilfreich. Sie habe schon erlebt, dass Familien gemeinsam einen Schnaps auf den Opa trinken. Im Hospiz stellen sie eine Kerze auf und öffnen sie die Fenster, um die Seele fliegen zu lassen. Das Sterben, so vermitteln es die beiden Hospizhelfer an diesem Abend überzeugend, gehört mitten ins Leben und der Tod ist ein unerhörtes und in jedem Fall einmaliges Ereignis im Leben eines Menschen, dem wir unbedingt mehr Raum geben sollen.

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