Hilfe bei Spielsucht:Besessen vom Glück

Hilfe bei Spielsucht: Eine Spielhalle im Münchner Bahnhofsviertel. Viele Spieler nutzen mehrere Automaten gleichzeitig. Das Suchtpotenzial ist hoch.

Eine Spielhalle im Münchner Bahnhofsviertel. Viele Spieler nutzen mehrere Automaten gleichzeitig. Das Suchtpotenzial ist hoch.

(Foto: Stephan Rumpf)

"Wenn ich es richtig anpacke, hole ich mir alles zurück": Die Anzahl der Spielsüchtigen, die sich in den Ruin zocken, steigt seit Jahren. Auf die Spielmanie folgen oft Alkoholabhängigkeit, Depression, sogar Selbstmord. Strengere Regeln für die Automaten-Branche könnten Leben retten.

Von Stefan Mühleisen

Am Anfang stehen der Gewinn und das Hochgefühl, am Schluss bleiben ein Schuldenberg und nackte Verzweiflung. So war das schon bei Fjodor Dostojewski, dem wohl berühmtesten Spielsüchtigen der Literaturgeschichte. Im September 1863 berichtet er in einem Brief euphorisiert, dass er beim Roulette 5000 Franken gewonnen habe. Zwei Jahre später ist er gefangen in der Spielhölle, wie ein flehender Bettelbrief an seinen Freund Alexander Jegorowitsch vom 5. September 1865 dokumentiert: Alles habe er verspielt, alles, was er besaß. "Schicken Sie mir Geld um Gottes Willen (...) Sie werden doch einen Ertrinkenden nicht ohne Geld lassen."

Erst der Big-win, dann der große Absturz: In 150 Jahren haben sich die Mechanismen der Besessenheit vom Glücksspiel nicht verändert. Allerdings gibt es immer mehr Menschen, die in die gleiche Psycho-Falle geraten wie Dostojewski, der seinen Niedergang im Roman "Der Spieler" verarbeitet hat. Die psychiatrischen Kliniken stellen sich vermehrt auf die Behandlung dieser unglücklichen Menschen ein.

Das Isar-Amper-Klinikum im Münchner Vorort Haar hat jetzt als erste Einrichtung in Bayern ein spezielles tagesklinisches Angebot eröffnet. "Uns wurde klar, wie groß der Bedarf für ein Behandlungsangebot ist", sagt die Ärztliche Direktorin Margot Albus.

Wartezeiten dauern an den Beratungsstellen bis zu sechs Wochen

Nach einer aktuellen Erhebung der Landesstelle für Glücksspielsucht gibt es in Bayern 28.000 "pathologische Spieler"; deutschlandweit wird von rund 200.000 ausgegangen. Landesstellen-Geschäftsführer Konrad Landgraf berichtet von einem regelrechten Ansturm auf die bayernweit 24 Glücksspielsucht-Beratungsstellen. Seit 2009 ist nach seinen Angaben die Zahl der Klienten um 42 Prozent angestiegen. Wartezeiten von bis zu sechs Wochen seien keine Seltenheit.

Die Verzweifelten suchen Hilfe, weil bei ihnen das Spielen um Geld krankhafte Ausmaße angenommen hat. Sie zeigen die Symptome einer "nicht stoffgebunden Sucht". Das heißt: Sie brauchen den Kick im Kasino ebenso wie ein Fixer die Heroinspritze. Das fatale: Der Zwang zum Zocken bringt oft noch weitere Begleitkrankheiten mit sich - oder sie sind Folgeerscheinung der selbstzerstörerischen Spielmanie: Alkoholabhängigkeit, Depression, Selbstmord.

Haar, Isar-Amper-Klinikum, Tagesklinik für Spiel- und Internetsüchtige,

Die Psychiaterin Susanne Pechler bei einer Therapiesitzung in der neuen Tagesklinik in Haar.

(Foto: Angelika Bardehle)

Dazu kommt noch die soziale Katastrophe, wenn Ehepartner sich das in jeder Hinsicht ruinöse Verhalten nicht mehr bieten lassen. Das Bestürzende: Nachdem sie ihre Existenz buchstäblich verzockt haben, glauben viele immer noch, Fortuna habe sie auserkoren und mache nur eine Pause. "Sie haben alles verloren. Doch auch in der Therapie denken viele: vielleicht reiß' ich es doch noch - und spreng' die Bank", berichtet die Psychologin Susanne Pechler.

Die Ärztin leitet die neue Tagesklinik für Glücksspielsüchtige in Haar. Einer ihrer Patienten ist prototypisch für dieses psychologische Muster, dem schon Dostojewski verfallen war. Am Anfang von Frederik Müllers (Name geändert) Leidensweg stand ebenfalls ein Big-Win: Mit 30 Jahren führt er seine neue Freundin ins Kasino nach Bad Wiessee aus. Er wollte ihr etwas Exklusives bieten, einen chicken Auftritt in elegantem Ambiente.

Für sein weiteres Leben hatte er großes Pech, an diesem Abend Glück zu haben: Mit 100 Euro Einsatz erspielte er sich 2000 Euro Gewinn am Roulettetisch. Das schnelle Triumph berauschte ihn, "ich war der Mittelpunkt der Welt", berichtete er bei seiner ersten Therapiesitzung - 13 Jahre nach dem Ereignis - seiner Ärztin Pechler. Frederik Müller hatte eine Art Erweckungserlebnis, er glaubte jetzt, ein talentierter Glücksspieler zu sein. "Es setzte eine kognitive Verzerrung ein", beschreibt Pechler diesen Psycho-Virus, der Frederik Müller Denken und Handeln von da an beherrschen sollte. Der Mann war erfüllt von der Illusion, das System des Roulettespiels durchschaut zu haben. "Ich kann es kontrollieren", war er überzeugt.

"Wenn ich es richtig anpacke, hol' ich mir alles zurück"

Das Gegenteil war der Fall. Der Bürokaufmann fährt danach immer öfter in die Spielbank, der Teufelskreis kommt in Gang: Er verliert mehr Geld, als er einsetzt. Er glaubt aber fest, irgendwann alles wieder zurückgewinnen zu können. Müller fängt an, seine Familie und Freunde um Geld anzupumpen, nach fünf Jahren steht er bei der Bank mit 5000 Euro Schulden in der Kreide.

Seine Psyche hatte sich da längst umgestellt auf "regelgeleitetes Verhalten" - er glaubte daran, die Spielregeln nur noch genauer studieren zu müssen, um zu gewinnen. Normal - also nicht krankhaft - wäre ein von Erfahrung geleitetes Handeln, also die Einsicht: Ich habe ein Vermögen verspielt, Fortuna ist launisch, kein Mensch kann sie beeinflussen - ich muss aufhören.

Rund 34 000 Menschen in Bayern bekommend das einigermaßen hin. Sie zeigen nur "problematisches Spielverhalten", so die medizinische Definition. Sie haben immerhin Schuldgefühle wegen verzocktem Geld, vernachlässigen aber bereits ihre Verpflichtungen, etwa indem sie statt in die Arbeit in die Spielhalle fahren. Da sitzen sie dann an dudelnden Spielautomaten und werfen eine Münze nach der anderen ein. Die Glücksspielbranche begünstigt dabei das Abrutschen ins gefährliche Suchtverhalten: Seit 2006 ist die Anzahl der Spielhallen in Bayern auf rund 21 000 im Jahr 2012 um das doppelte gewachsen.

Republikweit stehen rund 240 000 so genannte "Spielgeräte mit Gewinnmöglichkeit" in Kneipen und Spielhallen. 2011 fütterte ein Heer aus Zockern diese blinkenden und bimmelnden Automaten nach Branchenangaben mit rund vier Milliarden Euro. Doch Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) plant seit kurzem strengere Regeln für die Automaten-Branche, wonach die Hälfte der Geräte in Lokalen abgebaut werden sollen. Die Branche spricht bereits von einer "stillen Enteignung der Betriebe."

Spielsüchtige haben das höchste Selbstmord-Risiko

Allerdings könnte dies so manchem Betroffenen buchstäblich das Leben retten. Die Spielsucht zählt nach Expertenmeinung zu den Suchterkrankungen mit dem höchsten Selbstmord-Risiko. Nach einer Statistik der Landesstelle für Glücksspielsucht sind 75 Prozent der Hilfe Suchenden in den Beratungsstellen süchtig nach dem Gewinnversprechen aus den Klimperkästen.

Auch Frederik Müller hätte seine Spiel-Besessenheit beinahe umgebracht: Bevor er in die Tagesklinik kam, wurde er stationär behandelt - Suizidversuch mit Schlaftabletten. Vor zwei Jahren hätte er das Ruder noch herrumreißen können: Seine Familie tilgte mit einem privaten "Bail out" seine gesamten Schulden. Er heiratete wieder, schaffte zwei Jahre Abstinenz vom Roulettetisch. Dann der Rückfall ins alte Regeldenken. "Wenn ich es richtig anpacke, hol' ich mir alles zurück", gibt Psychiaterin Pechler seine Einstellung wieder. Er spielt jetzt das volle Programm: Kasino, Spielautomaten, Sportwetten. Seiner Frau sagt er nichts - bis sie die Kontoauszüge prüft: Schuldestand: 150.000 Euro. Müller greift zur Tablettendose, er will dem Fiasko mit dem Tod entkommen.

Wie viele von Pechlers Patienten hat er zur Spielsucht noch eine weitere Erkrankung. Müller hat über die Jahre eine schwere Depression entwickelt. Andere verfallen Drogen oder entwickeln eine Persönlichkeitsstörung. Die Therapie dieser kombinierten Krankheitsbilder ist komplex.

Müller muss Antidepressiva schlucken, dazu von morgens bis abends an Therapiesitzungen teilnehmen. Der heute 45-Jährige muss dabei sein Verhalten und sein Denken völlig umkrempeln: Es zeigte sich, dass er beherrscht ist vom Wettkampfgedanken. "Ich bin nur etwas Wert, wenn ich gewinne", formuliert Pechler den Kerngedanken, der Müller ins Desaster geführt hat. Beim Fußball, beim Joggen, im Kasino - er musste der Erste sein, ansonsten setzt der Motor seiner Männlichkeit aus. Die Prognose ist offen. Immerhin hat er sich jetzt erstmals in allen bayerischen und österreichischen Spielbanken sperren lassen.

Derzeit gibt es nur zehn Plätze für Glücksspielsüchtige in Haar. Darunter sind auch Internetabhängige, die ihre Lebenszeit virtuell verdaddeln. "Die Tagesklinik ist erst der Anfang", sagt Klinikdirektorin Albus. Das Angebot werde in den nächsten Jahren weiter ausgebaut, die Nachfrage für die Suchtherapie wird weiter steigen. Denn mit dem Internet erwächst der Dostojewski 2.0: Man braucht nur vor dem heimischen Computer zu sitzen, um sich spielend in den Ruin zu klicken.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: