Integration: "Natürlich denken meine Cousins: Was ist denn mit dem passiert?"

Integration: Mitglieder der Nürnberger "Heroes".

Mitglieder der Nürnberger "Heroes".

  • Bei dem Projekt Heroes setzen sich Jugendliche aus Einwandererfamilien mit Themen wie Ehre, Identität und Menschenrechten auseinander.
  • Gegründet in Berlin, gibt es die Einrichtung bereits seit sechs Jahren auch in Nürnberg.
  • Rollenspiele prägen die Trainings. Sie sind aber nicht als Erziehungsprojekt gedacht, sondern als Plattform für Erkenntnisse.

Von Johann Osel, Nürnberg

An den Vorfall mit dem Mann, dem Messer und der schwangeren Tochter kann sich Arie gut erinnern. Das Mädchen erwartete ein Kind, von einem Freund in seiner Klasse. Und als Arie mal mit diesem die Schule verließ, fing der andere Junge plötzlich an zu flitzen, als wäre der Teufel hinter ihm her. Hinter ihm her war der Vater der Schwangeren - weil er den Namen und die Ehre der Familie beschmutzt habe. "Das war ein totaler Schock für mich", erzählt Arie, 18 Jahre alt.

Kaum zu glauben ist es aber auch, dass er selbst früher gar nicht so weit weg war von einer solchen Gedankenwelt, wenn auch natürlich nicht in dieser dramatischen Konsequenz. Er habe eigentlich immer die Meinungen von Verwandten oder Bekannten übernommen, richtig unerfahren, meint Arie, dessen Eltern irakische Kurden sind: Was die Frau zu Hause zu tun hat. Wie wichtig Ehre ist. Dass man besser Abstand zu Schwulen hält, weil die eh alle nicht normal sind. Kurzum: "Das läuft eben so, das war ja immer so." Fragen stellen oder Hinterfragen? Gehört sich nicht!

"Krass, was bei mir in den letzten Jahren passiert ist." Wenn der junge Mann mit dunklem Wuschelkopf und Bart zu erzählen beginnt, ist er kaum einzubremsen, ohne Punkt. Dass der neue Arie über den alten Arie so reflektiert spricht, liegt daran, dass er offen reden und nachdenken konnte. "Irgendwann stellt man sich die Frage: Warum denke ich so? Kann ich mit solchen Ansichten weiterkommen im Leben?" Das ist Grundprinzip bei den Helden, den Nürnberger "Heroes", einem Projekt "gegen Unterdrückung im Namen der Ehre" und für Gleichberechtigung.

Ein Abend im Stadtteil Gostenhof, lange galt die Gegend als Bronx von Nürnberg, inzwischen zieht sie Kreativvolk an. Multikulturelle Kulisse bis in jeden Winkel, auch mit Schattenseiten von Multikulti. Im Gebäude eines Integrations- und Bildungsvereins, dem örtlichen Träger des Projekts, treffen sich sechs Jugendliche bei Spezi und Chips. Ein gemütlicher Raum mit riesigem Sofa und Kicker. Hinter der Tür nebenan befindet sich eine Anlaufstelle für die Opfer von Frauenhandel.

Seit sechs Jahren besteht das bundesweite Projekt in Nürnberg, anderthalb Dutzend Jugendliche zwischen 15 und 21 Jahren haben seitdem eine einjährige Heroes-Ausbildung durchlaufen und sich in einem wöchentlichen Training mit Identität, Geschlechterrollen, Ehrbegriffen und Menschenrechten auseinandergesetzt. Wie im Schneeballsystem wollen sie das Gelernte weitergeben - in Schulen, als Gruppenleiter neuer Heroes und in ihren Cliquen. Der Freistaat Bayern fördert die Initiative. Gegründet wurde "Heroes" in Berlin, als Reaktion auf einen sogenannten Ehrenmord.

Heroes

Es war ein furchtbarer Anlass, der mittelbar zur Gründung des Projekts "Heroes" führte. 2005 wurde Hatun Sürücü in Berlin von ihrem Bruder mit drei Kopfschüssen getötet. Sie wollte ein freies Leben führen und nicht unter Zwang ihren Cousin heiraten. Der Fall entfachte eine Debatte über Ehrenmorde in Deutschland. Das ist kein festes Delikt in der Kriminalstatistik. Eine Studie im Auftrag des Bundeskriminalamts wertete 2011 Akten und Daten aus und kam auf bis zu zwölf Taten pro Jahr, die als Ehrenmord zu werten seien. "Heroes" verfolgt die Idee, patriarchalische Strukturen und deren Werte präventiv von Jugendlichen hinterfragen zu lassen. Das Projekt fand auch Kritiker, die sich an einer quasi "kulturellen Nachhilfe" für die meist in Deutschland geborenen Jugendlichen störten; oder das Thema durch den Stempel "Ehrenmord-Gefahr" überbetont sahen. Archaische Denkmuster entgegen der Gleichberechtigung sind durch den Zustrom von Migranten nun wieder in den Fokus gerückt. Flüchtlinge kommen als Zuhörer in Heroes-Workshops in Frage, kaum als Teilnehmer der Ausbildung. Debatten über Identität und Geschlechterrollen erfordern fast muttersprachliches Deutsch. In Bayern gibt es das Projekt mit lokalen Trägern in Nürnberg, München, Augsburg und Schweinfurt. Seit 2012 hat die Staatsregierung 2,5 Millionen Euro an Fördermitteln bereitgestellt. "Überkommene Rollenbilder, die in manchen Migrantenmilieus von Generation zu Generation weitergegeben werden, dürfen keinen Platz bei uns haben", so Innenstaatssekretär Gerhard Eck. Die Helden könnten "zu Vorbildern und Lotsen der Wertevermittlung werden". ojo

Ehrenmord - das klingt ganz weit weg von der fröhlichen Jugendgruppe, ist es auch. Eine Plakat zeigt aber, dass eine solche Tat nur die Eskalation eines Systems im Verborgenen sein kann. Ein Eisberg ist darauf zu sehen, das Wort "Ehrenmord" ragt als Spitze heraus. Im Wasser, nicht sichtbar, sind arrangierte Ehen, Gewalt, und als Basis: Bevormundung von Mädchen bei Kleidung, Arbeit, Freundschaften und Sexualität - "Einmischung in alle Lebensbereiche". Zeichen, die sich erkennen lassen. Man kann eingreifen. Und soll.

In der Gruppe um Arie sind alle schon als Heroes zertifiziert. Sie kommen jedoch immer wieder hierher, wie eine Art Jugendgruppe. Ihre Eltern stammen aus der Türkei, der arabischen Welt, Russland und Ex-Jugoslawien. "Postmigrantische Jugendliche" aus Ehrenkulturen, wie sie die Macher des Projekts als Zielgruppe definieren, das muss nichts mit dem Islam zu tun haben. Junge Männer mit Migrationshintergrund in zweiter oder dritter Generation seien oft mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert, sagt Ulrike Wickbold, Leiterin des Nürnberger Projekts: zu Hause mit dem Anspruch, "der Mann im Haus zu sein", die Familie zu beschützen, was auch immer das heißen möge. In Schule und Alltag sollen sie Gleichberechtigung leben. Ein schwieriger Spagat.

Das Projekt wird von einer Frau geleitet - ein Statement

Gedacht ist Heroes nicht als Erziehungsprojekt, sondern als Plattform für Erkenntnisse. Die Projektleitung ist weiblich, das ist ein Statement; zu Problemen habe das noch nie geführt. Männer mit Migrationshintergrund leiten die Gruppen, als glaubwürdige Vorbilder. "Fremdbestimmung, Unterdrückung, Zwangsheirat, im schlimmsten Fall Ehrenmord, das gibt es auch heute noch", sagt Wickbold. Davor dürfe man "nicht aus falschem multikulturellen Verständnis die Augen verschließen". Es solle aber auch "keinen Generalverdacht geben. Wir wollen nicht, dass die Jungs ihre Kultur ablegen, sondern sie bei einer gesunden Identitätsfindung unterstützen".

Rollenspiele prägen die Trainings. Etwa zum Konflikt, dass der Sohn vom Vater zum strengen Aufpasser für die Schwester bestellt wird. Gemeinsam werden Fälle durchdekliniert, gemeinsam erörtern sie Werte, entdecken Ehre als Positives - dass ein respektvoller Umgang ehrenhaft ist. "Es ist generell schwierig über Ehre zu diskutieren, natürlich will keiner in einem schlechten Licht bei anderen dastehen", meint Diaco, 20. Er hat iranische Wurzeln, seit 2013 ist er bei den Heroes, ein alter Hase. Es gehe um den Stellenwert von Ehre - "und dass der spätestens problematisch wird, wenn die Menschenrechte anderer dahinter anstehen". Man darf alles sagen, muss es aber begründen. Komplett anderes als Schule, meint Arie. "Man sitzt nicht da mit dem Heft und es wird diktiert."

Es sei eine starke Leistung als Teenager, jede Woche hierherzukommen, sagt Wickbold. Klar, es springen manche wieder ab. "Aber daran sieht man schon, dass der Bedarf da ist. Es sind viele, die einfach neugierig sind, die auf der Suche sind und Fragen haben wie: Wer bin ich, wo gehöre ich dazu?" Das werde "nicht auf der Straße diskutiert, das ist kein Smalltalk-Thema". Deshalb ist Batu, 18, dabei: "In der Türkei bin ich immer der Tourist, in Deutschland immer der Türke." Er habe sich, glaubt er, als einziger in Freundeskreis und Familie eher als Deutscher gefühlt. "Wenn ich in der Türkei war, konnte ich nicht viel anfangen mit dem Osmanischen Reich und den Heldengeschichten. Wenn man das sagt, kriegt man auch schiefe Blicke." Und den Vorwurf, dass man schon wie ein Deutscher sei: "Unhöflich, arrogant, geizig."

Die Jugendlichen erleben aber auch selber regelmäßig Vorurteile. "Setz dich nicht neben den!", rufen da Omas zu ihren Enkelinnen in der U-Bahn. "Echt, dein Freund kommt aus dem Iran? Das sind doch alles Machos!", wurde zu Diacos Freundin einmal gesagt.

"Wir kommen gedanklich nicht mehr zusammen"

"Die Sister ist 'ne Bitch" - harte Rap-Zeilen spielen sie vor, wenn sie in die Klassenzimmer gehen, ein Lied von Eko Fresh. Es erzählt die Geschichte von Gülisan, die einen Deutschen liebt und von ihrem Bruder getötet wird: "Fick doch auf die Zukunft, denn die Scheiße kennt kein Mensch. So was gibt's im Ghetto an jedem Ort, das ist kein leeres Wort - Köln Kalk Ehrenmord." Da lache keiner mehr, selbst jene, die vorher "auf dicke Hosen machen"; während bei den Debatten in Klassen, ob zum Beispiel ein Mädchen bestraft werden darf, wenn sie heimlich einen Freund hat, mitunter Reaktionen kämen wie: "Geschieht der recht".

Auch bei Schulbesuchen der Heroes sollen alle frei reden und argumentieren. 50 externe Workshops haben die Nürnberger 2018 gehalten, vor mehr als 1000 Jungen, Mädchen, Deutschen wie Schülern anderer Herkunft. Der Einsatzplan ist vielfältig, nicht nur bei den "angeblich dummen Mittelschülern", sagt Diaco. In der Gruppe haben sie meist ehrgeizige Bildungsziele, wollen auf höhere Schulen oder sind schon dort, einer studiert Jura.

Und da wäre das Eintreten für Toleranz im Umfeld, was nicht immer einfach ist. "Natürlich denken meine Cousins: Was ist denn mit dem passiert?", sagt Arie. Eine Freundschaft sei kaputt gegangen. "Wir kommen gedanklich nicht mehr zusammen, er geht davon aus, dass seine spätere Frau ihm Kinder schenkt und ansonsten sein Besitz ist." Doch Arie diskutiert gern. "Mein Ziel ist es nicht, alle meine Freunde anzupissen, aber ich will, dass die darüber nachdenken, was die so reden." Diaco kennt Situationen, "da legt man sich mit der Familie oder mit Bekannten an, und es gibt Sachen, da beugt man sich auch der Tradition. Es gibt da keinen Weg, der immer passt". Zumal, wenn das Umfeld nicht zimperlich ist. Diaco spielt Geige, da hört er schon mal: "Bruder, mit deinem Bart siehst du aus wie ein Mann und mit deinem Geigenkasten wie eine Schwuchtel."

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