Haidmühle:"Die Menschen erleben nichts, darum haben sie keinen Respekt vor der Natur"

Haidmühle: Wenn es sein muss, steigt Anton Kirchmair auf eine 50 Meter hohe Tanne

Wenn es sein muss, steigt Anton Kirchmair auf eine 50 Meter hohe Tanne

(Foto: hak/oh)

Der Künstler Anton Kirchmair lebt im hintersten Winkel des Bayerwalds. Die Einsamkeit und die rauhe Natur belasten und inspirieren ihn gleichermaßen.

Von Hans Kratzer

"Manchmal lass ich meine Schuh' draußen stehen", erzählt Anton Kirchmair, "aber dann muss ich, bevor ich wieder neisteig', erst schauen, ob nicht eine Kreuzotter drin liegt." Gelegentlich sonnen sich die Schlangen auf seiner Hausbank. "Ich setz' mich einfach daneben hin und dann genießen wir die Sonnenstrahlen in friedlicher Koexistenz."

Kirchmair hat größten Respekt vor der Natur und ihren Kreaturen, deren Vielfalt rund um sein Anwesen besonders stark ausgeprägt ist. Sein Zuhause liegt in einer Rodungsinsel im Grenzland zwischen Bayern und Böhmen. Marchhäuser heißt diese fast tausend Meter hoch gelegene und zur Gemeinde Haidmühle gehörige Waldgegend mit ihren Einöden. Vor dem Auge breitet sich eine Idylle aus, die hin und wieder trügt.

Die Grundstücksgrenze von Kirchmairs Anwesen ist zugleich die Landesgrenze. Einst verlief hier die Todeszone des Eisernen Vorhangs. "Leider ist die Grenze immer noch da", sagt Kirchmair. Seit 20 Jahren lebt er nun in diesem Streifen, aber es gibt kaum Kontakte nach Tschechien. "Als ob das eine fremde Welt wäre." Das Land drüben ist nach dem Krieg entvölkert worden, Dörfer und Anwesen wurden zerstört, es ist ein menschenleerer Raum.

Stattdessen tummeln sich in dieser Einsamkeit neben Kreuzottern noch Myriaden anderer seltener Tiere. Häufig marschiert Kirchmair tief in die Grenzwälder hinein, manchmal streift er nächtelang durchs Gehölz, ohne Taschenlampe und ohne Handy. Der 74-Jährige, der viel erlebt hat, als Seefahrer, als Lehrer und als Künstler, betrachtet dies als eine Selbsterfahrung, wie sie in der hektisch pulsierenden mitteleuropäischen Welt kaum noch möglich ist.

Sogar der Elch geht hier durch, entlang des alten Goldenen Steigs. "Man spürt ihn förmlich", sagt Kirchmair. Dazu der Luchs, der Wolf, im Frühjahr der seltene Schwarzstorch, "und manchmal steht plötzlich ein Hirsch mit seinem mächtigen Geweih vor mir". Gegen die gekalkten Wände seines mindestens 200 Jahre alten Bauernhauses hallt zudem die überwältigende Kakofonie der Vogelwelt. Seltene Arten wie der Crex crex, der Wachtelkönig, sind hier zu hören, "es ist unglaublich, was wir hier alles haben", schwärmt Kirchmair.

Seit 20 Jahren lebt er mit seiner Frau in dem ehrwürdigen Anwesen, dessen Abgelegenheit aber gewöhnungsbedürftig ist. Zufällig kommt hier niemand vorbei. Da hellt sich schon das Gemüt auf, wenn kurz nach Mittag wenigstens der Postbote auftaucht. "In München bin ich gerne ins Café gegangen, das geht hier nicht", sagt Kirchmair. Die Menschen im Grenzland sind eher verschlossen, Freigeister und Universalkünstler wie er genießen in dieser Region eher einen Exotenstatus.

Haidmühle: Ein Steinhauer hat den Wassergrand des Anwesens vor Generationen in mühseliger Handarbeit geformt.

Ein Steinhauer hat den Wassergrand des Anwesens vor Generationen in mühseliger Handarbeit geformt.

(Foto: hak/oh)

Anton Kirchmair ficht das nicht an. Er denkt viel über das Leben nach, wo könnte er das besser als in dieser Stille? Hier kommt er den Antworten auf die Grundfragen der Existenz wohl näher als in der Großstadt. Kirchmair, Jahrgang 1943, ist im zerbombten München aufgewachsen, in einer toten Stadt, wie er sagt, ohne Geräusche und Farben. Trotzdem denkt er gerne zurück. "Weil die Stadt vollkommen uns Kindern gehörte."

Damals gab es dort außer ein paar Ami-Lastern keine Fahrzeuge, auf der Straße erlebten die Kinder eine Freiheit, die heute unvorstellbar ist und deren Verlust Kirchmair tief bedauert. Die Unfreiheit und das Eingesperrtsein der heutigen Kinder sind mit seine Kernthemen. "Sie dürfen doch nichts mehr machen." Dabei müsste es umgekehrt sein: "Man muss den Kindern etwas zutrauen, man muss sie anleiten, dass sie wieder auf Bäume kraxeln und das Schwimmen lernen."

Seine Kunstwerke sollen die Erde nicht mehr belasten

"Früher", sagte Kirchmair, "zeigten uns die Alten, wie es geht, das Reinspringen in die Isar an der Thalkirchner Brücke und Flaucherbrücke. Sie zeigten uns die Kehrwasser, wo wir wieder aus der Strömung rauskamen. Wir wussten, was wir zu tun hatten, wenn wir in schnelles Wasser gerieten."

Dass die heutigen Kinder ihre Grenzen nicht mehr erfahren, dass sie nicht mehr lernen, mit Gefahren umzugehen, das bezeichnet Kirchmair als "die große Tragödie unserer Gesellschaft". Das Leben ist gefährlich, so oder so. "Die Gefahr wird aber größer, wenn man ihr ständig ausweichen will."

Haidmühle: Das Grenzland, in dem das Jahrhunderte alte Anwesen von Martha und Anton Kirchmair steht, wirkt auf den ersten Blick wie die pure Idylle. Das Leben in dieser Abgeschiedenheit ist aber nicht immer einfach.

Das Grenzland, in dem das Jahrhunderte alte Anwesen von Martha und Anton Kirchmair steht, wirkt auf den ersten Blick wie die pure Idylle. Das Leben in dieser Abgeschiedenheit ist aber nicht immer einfach.

(Foto: hak/oh)

Der Gefahr des Wassers entkommt man bei ihm zuhause dennoch nicht. Vor der Haustür steht ein alter Wassergrand. Ständig fließt kaltes frisches Quellwasser hindurch. Einmal war das Team des Filmemachers Gernstl da, aber Kirchmair wollte nicht gefilmt werden: "Weil ich den Eindruck hab, dass ihr die Leut gerne a bisserl vorführts."

"Sie stellen unser ganzes Tun in Frage", sagte Gernstl etwas irritiert. "Ja", entgegnete Kirchmair und fügte hinzu, er mache nur mit, "wenn wir gemeinsam in den Grand steigen und auf gleicher Höhe frieren." Was Gernstl tat. Das denkwürdige Video ist auf Youtube noch zu sehen.

Kirchmair ist ein Universalist, er ist Sänger, Maler, Bildhauer und Schriftsteller. 2012 hat er mit seinem ersten Kunstbuchprojekt "Drei Silben" auf der Frankfurter Buchmesse für Furore gesorgt. Zu einer Lesung in Obernzell bei Passau ist er stundenlang auf der Donau hingeschwommen. Manchmal steigt er im Böhmerwald schnell auf eine 50 Meter hohe Wettertanne. Grenzen aller Art sind es, die ihn beschäftigen.

"Die Menschen erleben nichts, deshalb haben sie keinen Respekt vor der Natur." Daher sollen seine Kunstwerke künftig die Erde nicht mehr belasten. Seine Skulpturen hat er vernichtet. In seinem feinen Atelier, das er in seinem Haus errichtet hat, arbeitet er nur noch mit Leichtmaterialien. Draußen im Garten zeigt er auf einen Ameisenhaufen. "So sollten auch wir mit der Schöpfung umgehen", sagt er. Ein autarker Staat, zieht er weiter, hinterlässt er keine Spuren, "so möchte ich es auch halten."

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