Haftentlassung im Fall Vanessa:"Meine Tochter ist tot, aber andere Kinder leben noch"

Zehn Jahre saß der Mörder der zwölfjährigen Vanessa im Gefängnis. Dieser Tage soll der mittlerweile 29-Jährige aus der Haft entlassen werden. Ausreichend therapiert wurde er in dieser Zeit nicht. Die Justiz würde ihn gerne weiter einsperren, sie hält ihn immer noch für gefährlich. Aber kann sie das? Und darf sie das?

Hans Holzhaider

Februar 2003, Landgericht Augsburg: Der Landgerichtsarzt Richard Gruber erstattet sein Gutachten über den 19-jährigen Michael W., angeklagt des Mordes an der zwölfjährigen Vanessa. Der Angeklagte habe sich sehr bemüht, sich als normalen jungen Mann darzustellen, sagt der Sachverständige. Er wolle gerne dem Idealbild des netten Jungen entsprechen. Er habe eine vereinfachte, unreflektierte Weltsicht: Dass ein gutes Leben ein Leben ohne Streit und Konflikte sei. Er habe ein sehr starkes Bedürfnis nach Zuwendung und Aufmerksamkeit, aber ein deutliches Defizit an Gefühlen. Er würde das, sagt der Gutachter, als "emotionale Legasthenie" bezeichnen. Es fänden sich zwar eine Reihe von Belastungs- und Störsignalen, aber nichts mit "Krankheitswert", nichts, was das Kriterium einer "schweren seelischen Abartigkeit" erfülle - eine der Voraussetzungen, die das Gesetz für die Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit nennt. Wenn das Gericht den Angeklagten für schuldig befindet, wird er also nicht in ein psychiatrisches Krankenhaus, sondern ins Gefängnis kommen.

An dieser Stelle hält es die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie hat nicht mehr das Wort, aber es platzt aus ihr heraus: Diese "Gefühlsarmut", diese "emotionale Legasthenie", das sei doch ganz deutlich das Symptom einer Traumatisierung des Angeklagten, ein seelischer Schutzmechanismus einer schwer traumatisierten Person, die hohe Spannungen in sich abkapselt. Eine brandgefährliche Konstellation sei das: "Die äußere Erscheinung des netten jungen Mannes, der aber diese mörderische Aggression in sich trägt, die jederzeit ausbrechen kann." Der Landgerichtsarzt zuckt mit den Schultern. "Vermutungen" seien das, durch keinerlei konkrete Befunde gestützt.

Nun sind die zehn Jahre um

Michael W. wird zu zehn Jahren Jugendstrafe verurteilt. Nach zehn Jahren wird er also wieder in die Freiheit entlassen werden, das steht so fest wie das Amen in der Kirche. Eine Sicherungsverwahrung sieht das Gesetz im Jahr 2003 für Jugendliche nicht vor. Romana G., die Mutter des ermordeten Mädchens, ist zutiefst beunruhigt. "Meine Tochter ist für alle Zeiten tot, aber andere Kinder leben noch", sagt sie in ihrem Schlusswort. Wie solle sich dieser junge Mensch ändern, wenn er noch nicht einmal erkannt hat, warum er das getan hat? Wie soll er ausgerechnet im Gefängnis lernen, was er in all den Jahren bisher nicht gelernt hat? "An einem Ort, wo es zu wenig Aufmerksamkeit, zu wenig Zuwendung, zu viel Gewalt gibt?"

Nun sind die zehn Jahre um. Nun müsste Michael W. entlassen werden. Und die Justiz sucht verzweifelt nach einer Handhabe, ihn weiter einzusperren. Dazu müsste sie genau das nachweisen, was sie bisher bestritten hat: Dass Michael W. an einer psychischen Störung leidet, die ihn hochgradig gefährlich für seine Mitmenschen macht.

Wenn ein 19-Jähriger, der außer wegen eines Ladendiebstahls und wegen Schwarzfahrens strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten ist, nachts in einem Totenkopfkostüm durch die Straßen streift, durch das erleuchtete Fenster eines Einfamilienhauses zwei Kinder beobachtet, die gerade zu Bett gehen, wenn er dann in dieses Haus einsteigt, die Treppe nach oben schleicht, die Tür zum Kinderzimmer öffnet, sich mit einem langen Küchenmesser in der Hand neben ein schlafendes Mädchen stellt und das Kind, als es aufwacht und um Hilfe schreien will, mit 21 Messerstichen tötet - dann muss man kein Psychiater sein, um zu der Annahme zu kommen, dass mit diesem jungen Mann psychisch etwas nicht in Ordnung sein kann. Nein, man muss es anders formulieren: Man muss Psychiater sein, um diesen Täter für psychisch gesund zu halten. Man muss, genau gesagt, Gerichtspsychiater sein.

Denn der Gerichtspsychiater ist gehalten, bei seinem Gutachten die "Anlasstat", also die Tat, deretwegen der Angeklagte vor Gericht steht, außer Acht zu lassen. Er muss, wenn er sich über die Schuldfähigkeit eines Angeklagten äußert, so tun, als wisse er von der Tat überhaupt nichts. Also fragt der Gerichtspsychiater: Wie hat er sein Alltagsleben bewältigt? Gab es irgendwelche Ausfallerscheinungen? Ist er schwachsinnig? Hatte er Wahnvorstellungen, hörte er Stimmen? Stand er unter Drogeneinfluss? Nein? Dann wird er für gesund erklärt. Aber er hat ohne irgendein ersichtliches Motiv ein Mädchen erstochen? Das zählt hier nicht.

Das ist paradox, denn gerade diese Tat ist ja das sinnfälligste Symptom einer psychischen Störung. Aber dieses Paradox ist wohlbegründet in der immanenten Logik der Strafjustiz. Würde ein Gericht die Tat, über die es urteilen soll, als Symptom für eine psychische Störung werten, dann wäre der "Straf"-Justiz der Boden entzogen. Dann dürfte ein Gericht nicht mehr vorrangig fragen: "Wie müssen wir diesen Täter bestrafen, damit er seine Schuld angemessen sühnt", sondern es müsste fragen: "Wie müssen wir diesen Menschen behandeln, damit er so etwas nicht wieder tut?"

Sein Schicksal schien sich zum Besseren zu wenden

Im Fall des Michael W. freilich gab es auch ohne die "Anlasstat" genügend Anhaltspunkte dafür, dass er psychisch nicht gesund sein könnte. Er wurde 1982 in der ehemaligen DDR geboren. Im Alter von etwa einem Jahr wurde er seinen Eltern entzogen und im Kinderheim untergebracht. In den Akten ist von "Mangelernährung" und "Pflegeschäden" die Rede. Wenn er besuchsweise bei seinen Eltern war, heißt es dort, sei er verdreckt und verstört, einmal sogar mit einem gebrochenen Bein ins Heim zurückgekommen.

Als er fünf Jahre alt war, schien sich sein Schicksal zum Besseren zu wenden. Die Eheleute W. nahmen sich, zunächst probeweise, des Kindes an; als Michael sechs Jahre alt war, wurde er adoptiert. Für ihn begann sein bewusstes Leben erst in diesem Augenblick. An die Zeit vor der Adoption, konstatiert der Landgerichtsarzt Gruber, habe Michael "keine blasse Erinnerung". Erst 13 Jahre später, als er wegen des Mordes an Vanessa schon in Untersuchungshaft saß, erfuhr er, dass seine "Eltern" gar nicht seine leiblichen Eltern waren.

Tatsächlich wendete sich damals vieles zum Guten. Insbesondere zu seinem Adoptivvater entwickelte Michael W. ein inniges, liebevolles Verhältnis. Der Mann war Gleisbauer; kurz nach der Wende zog die kleine Familie in den Westen, nach Mering bei Augsburg. Der Vater war immer lustig, sie hatten so viel Spaß miteinander, sonntags kam Michael morgens zu seinem Vater ins Bett und sie schauten Kindervideos an, und voll Stolz präsentierte er dem Vater die guten Schulnoten.

Bis zu jenem Freitag im März 1993. Da kam Michael mal wieder mit einer Eins aus der Schule, aber der Vater war nicht da, und er kam auch nie mehr wieder. Er war an einer Gleisbaustelle von einem Zug überrollt worden.

Man kann das Ausmaß dieser Katastrophe für den Zehnjährigen schwer ermessen, vor allem vor dem Hintergrund, dass er als Kleinkind schon einmal seine wichtigsten Bezugspersonen verloren hatte, auch wenn er davon nichts mehr wusste. Michaels schulische Leistungen ließen rapide nach, schließlich wurde er in die Sonderschule verlegt. Zu Hause zog er sich zurück, kapselte sich ab, verbrachte ganze Nächte mit Videos, darunter viele Gewalt- und Horrorfilme. Mit dem neuen Lebensgefährten seiner Mutter gab es viel Streit. Oft stieg Michael nachts aus dem Fenster und streifte stundenlang durch die Straßen.

Mörder im Gefängnis kaum therapiert

In der Gerichtspsychiatrie spielen frühkindliche Prägungen und Traumatisierungen praktisch keine Rolle. Die Herren Freud, Jung, Adler sind im Gerichtssaal Personae non gratae. Dass Menschen Entscheidungen treffen - oder nicht treffen - aus Gründen, die ihrem wachen Bewusstsein entzogen sind, und die sie deshalb auch nicht benennen können, das passt nicht ins strafrichterliche Menschenbild, und das schreibt der Gerichtspsychiater auch gar nicht erst in sein Gutachten, selbst wenn er es (was sicher nicht immer der Fall ist) besser weiß.

So kam Michael W. also in den Strafvollzug. Zehn Jahre! Für die Verfechter des Für-immer-Wegsperrens eine lächerliche Zeit. Für einen 19-Jährigen, der diese Zeit vor sich hat, eine Ewigkeit. Was würde mit ihm geschehen in diesen zehn Jahren?

Die ersten zweieinhalb Jahre seiner Haftzeit verbrachte Michael W. in der Jugendstrafvollzugsanstalt Ebrach. In dieser Zeit machte er den Qualifizierenden Hauptschulabschluss, woran man sehen kann, dass sein Aufenthalt in der Sonderschule jedenfalls nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun hatte. Einmal wöchentlich fand ein "kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientiertes" Gespräch mit einem der Anstaltspsychologen statt. W. habe "sicherlich von diesen Gesprächen profitiert", heißt es in einem Bericht des Psychologen, er habe seine verbalen Fähigkeiten etwas verbessert und sich in Problembewältigung und Konfliktfähigkeit geübt. Eine "emotionale Tiefe" sei nicht zu spüren gewesen. Es werde eine Sozialtherapie empfohlen.

Im Juli 2005 wurde Michael W. in die JVA Straubing verlegt, weil man in Bayern Gefangene, die älter als 24 Jahre sind, nicht mehr im Jugendstrafvollzug haben will. Straubing ist das bayerische Hochsicherheitsgefängnis, hier sitzen Gefangene mit einer Strafdauer von mehr als acht Jahren. Schon nach zwei Monaten bekam Michael W. einen Ausbildungsplatz als Schreiner, das gilt als sehr schnell. Die Schreinerlehre wurde irgendwann abgebrochen, die Gründe dafür sind unklar. Stattdessen begann Michael W. eine Malerlehre, die er mit der Gesellenprüfung abschloss.

Mörder wollte Mädchen nur erschrecken

Die Frage, ob es auch in Straubing so etwas wie eine Therapie gegeben habe, wird unterschiedlich beantwortet. Das bayerische Justizministerium teilt mit, die "Gespräche" seien in Straubing fortgeführt worden, hätten jedoch "mangels Therapiemotivation des Gefangenen zuletzt nur noch vereinzelt stattgefunden". Der ehemalige stellvertretende Anstaltsleiter sagte vor Gericht aus, er könne sich nicht erinnern, "dass da was fortgeführt wurde". Zuerst komme die Lehrausbildung. Das sei sehr wichtig. Erst danach werde "eine Therapie angedacht".

Es habe mehrere Disziplinarmaßnahmen gegeben, berichtete der Beamte, einmal, weil der Gefangene einen Jogginganzug trug, der ihm nicht gehörte, einmal, weil er sich unerlaubt auf einer anderen Station befand. Ein Filmplakat des Films "Fluch der Karibik II", auf dem ein Totenkopf abgebildet war, sei beschlagnahmt worden. Außerdem habe man bei einer Haftraumkontrolle eine Vielzahl von Fotos von jungen Männern gefunden, alle aus Zeitschriften, vor allem der Bravo ausgeschnitten. Er sei eingehend dazu befragt worden, er habe gesagt, das sei ein Hobby. Homosexuelle Neigungen habe er verneint.

Im August 2008, dreieinhalb Jahre vor dem Ende der Haftstrafe, wird Michael W. in die sozialtherapeutische Anstalt der JVA Erlangen verlegt. Dort gibt es 41 Plätze für Gefangene, die wegen Gewaltdelikten verurteilt sind. Die Therapie in Erlangen ist überwiegend verhaltensorientiert. Es werden soziale Kompetenzen eingeübt - von einfachen Gesprächsregeln bis zum adäquaten Umgang mit Ärger, Wut, Frustrationen, Kränkungen. Wie schafft man es, bei Konflikten nicht gleich zur Gewalt Zuflucht zu nehmen? Wie schafft man es, auf Alkohol zu verzichten? Der Schwerpunkt liegt auf Gruppenarbeit, sagt der Anstaltsleiter Michael Behnke, das habe sich bewährt. Aber es gibt auch Einzelgespräche für die individuellen Probleme und für intime, heikle Inhalte. "Aber eine Psychotherapiestation sind wir nicht", sagt Behnke.

Staatsanwaltschaft beantragt "Sicherungsverwahrung"

Im Juli 2008 verabschiedet der Bundestag ein "Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht". Im September 2010 erstattet der Schweizer Psychiater Frank Urbaniok im Auftrag der sozialtherapeutischen Anstalt ein Gutachten über Michael W.: Er kommt zu dem Ergebnis, dass die relevanten Probleme, insbesondere die Existenz von massiven Gewalt- und Tötungsphantasien, noch bei weitem nicht ausreichend bearbeitet seien, und dass deshalb eine erhebliche Gefahr bestehe, dass W. in Freiheit erneut schwere Straftaten begehe. W. habe zwar "wertvolle Fortschritte" gemacht, aber Urbaniok hält eine weitere Therapie von mindestens fünf Jahren für erforderlich. Gestützt auf dieses Gutachten, beantragt die Staatsanwaltschaft Augsburg die nachträgliche Sicherungsverwahrung.

Am 30. März 2011 wird Michael W. in die JVA Straubing zurückverlegt. Den Ausschlag dafür hätten Sicherheitsbedenken gegeben, sagt Anstaltsleiter Behnke. Man fürchtete, W. könnte angesichts der nun wieder völlig ungewissen Haftdauer einen Fluchtversuch unternehmen. Außerdem sei man davon ausgegangen, dass W. sich nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft "nicht mehr auf eine Therapie einlassen" würde. Wie Michael W. auf diese Mitteilung reagiert habe, wird Behnke gefragt. "Er wirkte konsterniert, enttäuscht, entsetzt, aufgewühlt."

"Die Justiz hat sich nichts vorzuwerfen"

Die Therapeutin, die in Erlangen zweieinhalb Jahre lang mit W. gearbeitet hat, sagt, es habe in der Therapie gute und schlechte Phasen gegeben: "Wir waren auf dem richtigen Weg. Kurz vor der Rückverlegung nach Straubing waren wir sehr nah an der Tat dran. Er hätte noch zwei bis drei Jahre gebraucht."

Am 22. Februar 2012 war die Strafhaft von Michael W. beendet. Seit dem 24. Februar prüft die Jugendkammer des Landgerichts Augsburg, ob die strengen Auflagen des Bundesverfassungsgerichts für die nachträgliche Verhängung von Sicherungsverwahrung im Fall Michael W. erfüllt sind. Die Richter sind in einer ähnlichen Lage wie ihre Kollegen in Oslo, die über den Attentäter Anders Breivik urteilen müssen. Zwei Gutachter kommen zu dem Ergebnis, Michael W. sei nach wie vor so gefährlich, dass man ihn auf keinen Fall entlassen dürfe. Der dritte Gutachter, der Psychologe Helmut Kury, glaubt, man könne es verantworten, den jungen Mann unter strengen Auflagen zu entlassen. Er sei höchst motiviert, die Therapie fortzusetzen, er bekenne sich zu seiner Tat, habe auch nicht versucht, sie zu bagatellisieren, er könne Gefühle deutlich besser erleben als früher, und er habe eine realistische Perspektive für sein Leben nach der Entlassung.

Aber Tatsache ist auch: Nach wie vor hat Michael W. keinen Zugang zu den wirklichen Motiven für seine Tat. Nach wie vor beharrt er darauf, er habe das Mädchen nur erschrecken wollen und sei in Panik geraten, als es unerwartet aufwachte. Nach wie vor sagt er, es sei Zufall gewesen, dass die Tat aufs Haar einer Szene aus einem seiner Lieblings-Horrorfilme glich.

Frank Arloth leitet die Abteilung Justizvollzug im Bayerischen Justizministerium. Mindestens einmal im Jahr mussten die Anstalten, in denen Michael W. untergebracht war, nach München Bericht erstatten. Warum also war die Justiz nicht in der Lage, den Gefangenen Michael W. während seiner zehn Jahre dauernden Haft so zu behandeln, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht?

Weil das System eben so ist: Wenn das Gericht einen Angeklagten ins Gefängnis schickt statt in die Psychiatrie, dann wird er auch wie ein Gefangener behandelt und nicht wie ein Patient. "Das System", sagt Frank Arloth, "kann nur mit dem reagieren, was es hat. Für den verurteilten Gewalttäter hat es Sozialtherapie. Die dauert zwei bis drei Jahre, dann gibt's nicht mehr zu therapieren."

Dann sagt Frank Arloth noch: "Die Justiz hat sich nichts vorzuwerfen."

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