Es ist ein drückend schwüler Vormittag, Friederike Herzog und Andreas von Lindeiner haben in ihrem Auto alle Fensterscheiben heruntergekurbelt. Doch kein Luftzug lindert die bleischwere Hitze über dem Königsauer Moos, einem weitläufigen Feuchtgebiet im Unteren Isartal direkt an der A 92 bei Dingolfing.
In Schritttempo kurvt Lindeiner einen Feldweg entlang. Plötzlich tritt er voll auf die Bremse. "Da sind sie", sagt der Biologe und oberste Artenschützer beim Landesbund für Vogelschutz (LBV), "und zwar richtig viele".
Weit hinten auf einer frisch gemähten Wiese steht eine Schar kniehoher, unscheinbar graubraun gefiederter Vögel mit eigentümlich langen, nach unten gekrümmten Schnäbeln. Einige schreiten gemessenen Tempos durchs Gras, andere haben die Schnäbel leicht geöffnet, so als würden sie hecheln. Es sind Große Brachvögel, die sich hier versammelt haben.
Lindeiners Kollegin Friederike Herzog beginnt zu zählen. An Ende kommt sie auf 26 Vögel. Für die beiden Ornithologen ist es ein Glückstag. Der Große Brachvogel zählt zu den seltensten Arten in Bayern. So viele Exemplare auf einem Fleck haben Andreas von Lindeiner und Friederike Herzog seit Jahren nicht mehr gezählt.
Der Große Brachvogel (Numenius arquata) ist Gegenstand des neuen, aufwendigen Forschungsprojekts, das der Landesbund für Vogelschutz dieser Tage gestartet hat. Und wie beim großen Kuckuck-Forschungsprojekt des LBV vor vier Jahren ist die Süddeutsche Zeitung auch dieses Mal mit dabei.
Die SZ begleitet einen jungen Großen Brachvogel auf seinem Winterflug in den Süden. Einst war die Wiesenbrüter-Art in praktisch allen Flusstälern, Mooren und anderen Feuchtgebieten hierzulande anzutreffen. Heute leben außer im Königsauer Moos nur noch am Münchner Flughafen, an der Donau und im Altmühltal größere Gruppen.
Die winzige Population kommt in Bayern nicht auf die Beine
"Wir haben hier im Freistaat gerade mal noch 465 Brutpaare und es werden von Jahr zu Jahr weniger", sagt Lindeiner. Auf der Roten Liste werden die Großen Brachvögel seit Jahren in Kategorie I geführt. Das heißt, sie sind akut vom Aussterben bedroht.
Dabei hat der Freistaat schon vor bald 40 Jahren ein millionenschweres Artenhilfsprogramm für die Schnepfenart aufgelegt. Dennoch kommt die winzige Population in Bayern nicht auf die Beine. "Jetzt wollen wir endlich Bescheid wissen, warum das so ist", sagt Lindeiner. Das neue Forschungsprojekt des LBV ist auf fünf Jahre angelegt.
Natürlich haben Lindeiner und Herzog allerlei Vermutungen darüber, warum die Bemühungen um die Großen Brachvögel nicht fruchten. Eine lautet, dass es zu wenige Jungvögel gibt. Im Königsauer Moos etwa zählten Herzogs Helfer vergangenes Jahr 49 Brutpaare, ein Gelege besteht in der Regel aus drei bis fünf Eiern. Gleichwohl wurden dort nur neun Jungvögel flügge. In den anderen Brutgebieten sah es nicht besser aus.
Natürlich gibt es allerlei Spekulationen, wieso es kaum Jungvögel gibt. "Eine lautet, dass viele Brachvogel-Paare einfach zu alt sind für Nachwuchs, viele Nester also leer bleiben, schließlich werden Tiere bis zu 30 Jahre alt", sagt Lindeiner. "Aber was es wirklich ist, wissen wir bislang noch nicht." So wie die Vogelschützer auch nicht wissen, wie viele Jungvögel ihren ersten Winterflug überstehen und ob sie überhaupt in das Gebiet zurückkehren, in dem sie geboren wurden.
Doch da sind auch noch andere Fragen, die den LBV interessieren. Lindeiner und Herzog wollen aufklären, wie es um die Wirksamkeit des teuren Artenhilfsprogramms steht, das sich der Freistaat für den Schutz der Großen Brachvögel leistet. "Wir wissen bisher nur, dass sich die Brachvögel auf Wiesen aufhalten, die sie gut überblicken können, die aber nicht komplett kurz geschoren sind", sagt Lindeiner.
"Ob sie standorttreu sind oder auch mal zwischen verschiedenen Wiesenregionen hin und her wechseln, wie groß ihr Aktionsradius ist, wie lange die Ausflüge dauern, all das müssen wir erst herausfinden." Wenn das geklärt ist, so die Hoffnung der Tierschützer, kann man das Artenhilfsprogramm so anpassen, dass es besser wirkt.
In ihrem Forschungsprojekt setzen die Vogelschützer auf hochmoderne GPS-Geräte. Sie werden den Großen Brachvögeln auf den Rücken geschnallt. Die Geräte sind nur wenige Quadratzentimeter groß und gerade mal 17 Gramm leicht. Die Brachvögel, die bis zu einem Kilo schwer werden können, spüren sie kaum auf ihrem Rücken.
"Gleichwohl sind die Sender so leistungsfähig, dass wir in halbstündlichem Takt nachvollziehen können, wo die Vögel gerade herumschwirren", sagt Lindeiner. "Sie speisen ihre Daten ins Handynetz ein, von da werden sie direkt auf unsere Computer gespielt."
Die GPS-Geräte sind extrem exakt. Sie geben die Position des jeweiligen Vogels fast auf den Meter genau an. Als vor Wochen einmal Mitarbeiter in der LBV-Zentrale im mittelfränkischen Hilpoltstein einige Geräte von einem Zimmer in ein anderes umlagerten, konnte Herzog dies kurz darauf in München auf ihrem PC nachvollziehen.
Die Energie bekommen die Sender von Solarmodulen, die sie mit Strom aufladen, wann immer die Sonne scheint. 30 Große Brachvögel, darunter 20 Jungtiere, sollen für das Forschungsprojekt solche GPS-Sender auf den Rücken geschnallt bekommen.
Ein Probelauf im vergangenen Jahr mit zwei Jungvögeln und vier ausgewachsenen Tieren hat bereits erste Erkenntnisse gebracht. So wissen Herzog und Lindeiner nun, dass die Großen Brachvögel aus Bayern offenkundig am Atlantik überwintern - und zwar an den Westküsten von Portugal und Marokko.
Die eine ist gut 2000 Kilometer Luftlinie von Bayern entfernt, die andere etwa 3000 Kilometer. Eine besondere Route bevorzugen die Vögel auf ihrem Flügen offenbar nicht. Es gibt welche, die nur über Land über Frankreich und Spanien hinweg an ihr Ziel fliegen. Andere orientieren sich an den Alpen und der Mittelmeerküste und haben keine Scheu, längere Strecken übers Meer zu fliegen.
Manche Vögel kommen gar nicht mehr heim
Außerdem hat sich herausgestellt, dass Große Brachvögel sehr standorttreu sind und im Frühjahr wieder in ihr angestammtes Brutgebiet zurückkehren. Während der Flüge selbst gibt es aber große Unterschiede. Die einen legen immer wieder längere Pausen ein und lassen sich bis zu einer Woche Zeit auf ihrem Weg in den Süden und wieder zurück. Die anderen machen so schnell wie möglich und sind schon nach drei Tagen am Atlantik.
Die überraschendste Erkenntnis für Friederike Herzog und Andreas von Lindeiner bisher ist aber, dass Jungtiere nach ihrem ersten Winterflug offenbar eineinhalb Jahre lang in ihrem Überwinterungsgebiet bleiben. Jedenfalls taten das die beiden bisherigen jungen Brachvögel des Forschungsprojekts.
Einer ist vergangenen Herbst nach Portugal geflogen, der andere etwa 600 Kilometer Luftlinie weiter in den Süden nach Marokko. Für gewöhnlich kehren Große Brachvögel Anfang März nach Bayern zurück. Anders die beiden Jungvögel. Der eine ist in Marokko geblieben, der andere schwirrt in Portugal herum.
Derweil lassen sich die Großen Brachvögel im Königsauer Moos nicht stören. Friederike Herzog ist aus dem Auto ausgestiegen und hat ein Spektiv aufgestellt. Damit kann sie sogar auf etliche Hundert Meter Distanz erkennen, ob so ein Großer Brachvogel beringt ist und sogar die Beschriftung des Rings entziffern.
Die Tiere sind hungrig. Auf der Suche nach Würmern, Schnecken und anderen kleinen Beutetieren stochern sie in der heißen Mittagssonne mit den Schnäbeln im Gras herum. Und immer mal wieder lässt einer seinen melodischen, etwas wehmütig klingenden Ruf ertönen. Dann ist es wieder still.