Gewalt auf dem Oktoberfest:Mehr Alkohol, mehr Brutalität

"Wir brauchen immer öfter die Rechtsmedizin": Betrunkene, Diebe und Randalierer gehören für die Bundespolizei zum Wiesn-Alltag. Eine Nacht mit den Fahndern am Hauptbahnhof und an der überfüllten Hackerbrücke.

Susi Wimmer

Der Täter war betrunken. 1,5 Promille Atemalkohol. Am Südeingang zum Hauptbahnhof schlug er sein Opfer nieder, holte mit dem Fuß aus, trat dem am Boden liegenden drei-, viermal mit voller Wucht gegen den Kopf, sprang dann in die Höhe, direkt auf den Schädel des Schwerverletzten. In der Nacht auf Samstag konnten die Ärzte das Leben des 34-Jährigen gerade noch retten.

Gewalt auf dem Oktoberfest: Hackerbrücke, 22:30 Uhr: Auf dem Bahnsteig wird es eng, der große Run allerdings kommt erst noch.

Hackerbrücke, 22:30 Uhr: Auf dem Bahnsteig wird es eng, der große Run allerdings kommt erst noch.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Es war sechs Uhr früh, als die Erste Kriminalhauptkommissarin Sabine Stein die Inspektion der Bundespolizei am Hauptbahnhof verließ. Mit der Gewissheit, alle Beweismittel gegen den Täter so zusammengetragen zu haben, dass ein Richter wenig später Haftbefehl gegen den 35-jährigen Schläger erlassen konnte.

Nachmittags kehrte die Leiterin der Ermittlungsdienste wieder an ihren Schreibtisch zurück: Wiesn-Alltag bei der Bundespolizei. "Rein gefühlsmäßig", sagt die Polizistin, "haben sich die Gewaltdelikte im Vergleich zum Vorjahr sicher verdoppelt".

Leger in Jeans und Shirt gekleidet sitzt die Chefin über 36 Kriminal-Ermittler auf der Couch in ihrem Büro, kippt erst einmal eine Ladung lila Vollmilch-Naps über den Tisch und sagt mit einem Lächeln: "Ohne Schokolade wären wir aufgeschmissen." "Wir", das sind an diesem letzten Wiesn-Samstag zwölf Fahnder aus ihrer Truppe, die bis zwei Uhr früh Delikte wie Körperverletzung, Diebstahl, Sachbeschädigung oder Beleidigung zu bearbeiten haben.

Seit zehn Jahren leitet die braunhaarige Polizistin die Ermittlungsgruppe, kennt den ganzen Wiesn-Wahnsinn, die Tricks der Diebe, die völlig Betrunkenen, die sich nicht mehr auf den Beinen halten können und randalieren - und die Dimensionen der Gewalt.

"Wir brauchen immer öfter die Rechtsmedizin", sagt sie. Will heißen: Die Brutalität hat "in den letzten drei, vier Jahren so zugenommen, dass nicht die Ärzte, sondern die Rechtsmediziner die Untersuchungen der Opfer durchführen, um vor Gericht eine exakte Dokumentation der Verletzungsbilder vorlegen zu können".

Es ist gerade mal 20 Uhr und der Hauptbahnhof gleicht dem Stachus an einem Samstagnachmittag: Massenweise strömen Menschen in Lederhosen und Dirndln durch die Halle, einige zur S-Bahn, andere zu den Zügen. Letztere sind teilweise so voll, dass die Bundespolizei den Angestellten der Bahnsicherheit beispringen und die Züge zurückhalten muss, um die Massen am Einsteigen in die übervollen Züge zu hindern. "Von den Reisebewegungen her müsste die Wiesn in diesem Jahr brummen", sagt Polizeidirektor Jürgen Vanselow, Leiter der Bundespolizeiinspektion München.

Etwa 100 Polizisten sind an diesem Abend hauptsächlich im Bereich Hauptbahnhof und S-Bahnhof Hackerbrücke im Einsatz. Sie sollen verhindern, dass Betrunkene auf die Gleise fallen und dafür sorgen, dass die Masse der "freundlichen und netten" Wiesnbesucher sicher nach Hause kommt. "Unser Schwerpunkt liegt auf der Prävention", erklärt Vanselow. Natürlich seien verstärkt Sprengstoffhunde im Einsatz, natürlich halten seine Beamten an den Bahnhöfen und in den Zügen die Augen offen und natürlich sind sie dort, wo es brenzlig wird.

Wie ein toter Käfer in der Ausnüchterungszelle

Im ersten Stock der Inspektion, dort wo die Ermittlungsdienste angesiedelt sind, ist der Gang voll. Zeugen warten auf ihre Vernehmung, an so genannten Fixierhaken sind Wiesngäste, die plötzlich gewalttätig geworden sind, mit Handschellen zum Sitzenbleiben verdonnert. "In 90 bis 95 Prozent aller Fälle ist Alkohol im Spiel", sagt Vanselow. Und so riecht es auch.

21:40 Uhr: Drei Männer mit glasigen Augen hocken am Gang und warten auf ihre Befragung. Es geht um Körperverletzung. Sie wollten sich noch in einen überfüllten Zug zwängen, Angestellte der DB-Sicherheit hinderten sie daran, daraufhin prügelten sie auf die Sicherheitsleute ein. Ein Opfer liegt im Krankenhaus.

Frederik liegt wie ein toter Käfer in der Ausnüchterungszelle. Auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt. An der Nase klebt Blut und sonst noch so einiges. Die Träger der Lederhose haben ihm die Beamten abgeknöpft, damit er sich "nicht selbst schaden kann", wie Berti Habelt von der Bundespolizei erklärt. In einer Kiste liegen Frederiks Habselikeiten: ein Handy, Euro-Scheine, Hosenträger, Halstuch, Armband. Wie Frederik mit vollem Namen heißt, wissen die Beamten nicht, woher er kommt, auch nicht. Nur, dass er so betrunken ist, dass er nur noch englische Wortfetzen lallen kann.

Polizeiobermeisterin Jana Hartwig steht an der Zellentüre und streift ihre schwarzen Lederhandschuhe ab. "Den hat ein Wiesgast zum Hauptbahnhof begleitet, weil der Mann an der Nase verletzt und ziemlich orientierungslos war", erzählt die 25-Jährige. Im Krankenwagen dann fing der Betrunkene zu randalieren an. Ein Fall für die Bundespolizei. Nun wird ein Arzt kommen, Frederik untersuchen und feststellen, ob er "hafttauglich ist", das heißt, die Nacht ohne gesundheitliche Beeinträchtigung in der Zelle ausnüchtern kann. Zu seinem eigenen Schutz. Jetzt schafft er es doch, auf die Beine zu kommen, torkelt immer wieder zur Zellentüre und sucht vergeblich nach einem Ausgang. Schließlich schläft er auf der Pritsche ein.

Solange sie schunkeln, schlägern sie nicht

"Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle! Hölle! Hölle! Hölle!" Oben auf der Hackerbrücke stehen Bundespolizisten Spalier und weisen den Wiesngästen den Weg links und rechts über die Treppen nach unten auf den Bahnsteig. Musik dröhnt aus dem Lautsprecherwagen der Bundespolizei, unterbrochen von Durchsagen der Beamten, etwa: "Maßkrüge mit in die S-Bahn zu nehmen, ist nicht erlaubt."

Es ist 22:45 Uhr und endlose Menschenströme bewegen sich über die Brücke, der Bahnsteig füllt sich zusehends. "Um 23:30 Uhr ist hier alles dicht", sagen die Beamten. Dann wird es brenzlig, so wie am Freitagabend. "Die Bahnsteige waren voll, die Massen konnten nicht schnell genug von der S-Bahn wegtransportiert werden, das Geschiebe wurde bedrohlich", erzählt Berti Habelt.

In solchen Momenten gibt es für die Bundespolizisten nur eines: Bahnsteig sperren, die Wiesngäste oben auf der Brücke werden umgeleitet, müssen zu Fuß zum Hauptbahnhof weitergehen. Jetzt hockt eine Frau im Dirndl auf der Leitplanke, ist bemüht, ihre halbvolle Maß auszutrinken, um den Krug auf der Brücke zurücklassen zu können. Mitten im Gedrängel steht ein knutschendes Pärchen, die Straße ist mit Bierflaschen gesäumt, "ich gebe alles, was ich nur hab", singt es aus dem Lautsprecher. "Die Stimmung halten", nennt Berti Habelt diese musikalische Taktik. "So lange die Leute schunkeln und tanzen, schlägern sie nicht."

Doch selbst wenn sich nach Mitternacht der S-Bahnsteig an der Hackerbrücke langsam leert, wird es für die Bundespolizisten an anderer Stelle weitergehen: Einige feiern auf dem Partygelände an der Friedensstraße bei der "After-Wiesn" weiter - und laufen dann in den Morgenstunden sturzbetrunken auf die Bahnsteige am Ostbahnhof.

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