Süddeutsche Zeitung

Gesundheitspolitik:Bayern investiert fast eine halbe Milliarde Euro in die Pflege

  • Das Kabinett von Ministerpräsident Markus Söder hat ein umfangreiches Pflegepaket beschlossen.
  • Es enthält ein Pflegegeld, mit dem pflegende Angehörige unterstützt werden sollen. Außerdem soll es mehr Hospiz- und Palliativplätze geben.
  • Die Maßnahmen sollen in einem neuen Landesamt für Pflege koordiniert werden.

Von Wolfgang Wittl

Der Tag, an dem die bayerische Staatsregierung fast eine halbe Milliarde Euro ausgeben wird, beginnt hinter einer videoüberwachten Betonmauer, die so auch vor einem Gefängnis stehen könnte. In gut einer Stunde trifft sich das Kabinett, zuvor will sich der Ministerpräsident einen persönlichen Einblick verschaffen - und ein bisschen auch der Öffentlichkeit demonstrieren, wie wichtig ihm das Thema ist. Doch auch die Kameras dürfen Markus Söder nicht überall hin folgen, als er das Alten- und Pflegeheim St. Michael im Münchner Osten besucht, dessen graue Fassade im harten Kontrast zum warmen Innenleben des Hauses steht.

Knapp 200 Bewohner zählt dieser Musterbetrieb, eine ist Irene König, eine resolute Frau von 88 Jahren. Ohne Scheu vor drastischen Worten schildert sie Söder, wie anstrengend etwa die Betreuung von Dementen ist, wie viel Einsatz die Pflegekräfte zeigen - und das bei geringer Entlohnung. Es sind Sätze, die Söder in seiner Entscheidung bestärken, ein großes Pflegepaket zu schnüren.

Nach der Kabinettssitzung sagt der Ministerpräsident: "Wir haben heute ein ganz wichtiges Signal gesetzt für soziale Gerechtigkeit, aber auch für Respekt und Würde." Gemeint ist die Würde zu altern. Jährlich 1000 Euro können künftig Patienten vom zweiten Pflegegrad an mit Erstwohnsitz in Bayern beantragen.

Das Geld soll helfen, Angehörige zu unterstützen oder kleine Wünsche zu erfüllen, wie Gesundheitsministerin Melanie Huml sagt: Man wolle den Menschen, die das Land aufgebaut haben, ein Stück weit etwas zurückgeben. Bei etwa 360 000 Anspruchsberechtigten beträgt die Summe knapp 400 Millionen Euro. Ausgezahlt werden soll das Landespflegegeld erstmals im September - einen Monat vor der Landtagswahl.

Auch außerhalb der häuslichen Pflege investiert die Staatsregierung: Die rund 640 staatlichen Hospiz- und Palliativplätze im Freistaat sollen in den nächsten Jahren verdoppelt, 1000 Langzeitpflegeplätze für 60 Millionen Euro neu eingerichtet werden. Mit fünf Millionen Euro sollen zu den derzeit 2300 Kurzzeitpflegeplätzen weitere 500 geschaffen werden - auch sie sollen Angehörige entlasten, etwa wenn sie in Urlaub fahren wollen.

Söder verspricht sich von den Maßnahmen "maximale Flexibilität", koordiniert werden sollen sie in einem neuen Landesamt für Pflege. Dessen Sitz will der Ministerpräsident kommende Woche in seiner ersten Regierungserklärung bekannt geben. Dann dürften weitere Millionenbeträge ausgeschüttet werden, zum Beispiel für Wohnen und Verkehr.

Nach der inneren Sicherheit setzt Söder nun also seinen nächsten Akzent - für die Sicherheit im Alter. Die Lehren hat er aus der Bundestagswahl gezogen. "Völlig unterschätzt" hätten alle Parteien das Thema Pflege, "das war ein schwerer Fehler".

Die Möglichkeiten des Freistaats sind begrenzt

Die Opposition im Landtag zeigt sich trotzdem unzufrieden. "Eine jährliche Einmalzahlung für Pflegebedürftige ist etwas mehr als ein Blumenstrauß, aber nicht das, was die häusliche Pflege wirklich weiterbringt", kritisiert Ruth Waldmann, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD. Ihre Partei fordert einen steuerfinanzierten Lohnausgleich für pflegende Angehörige, die beruflich kürzertreten müssen, sowie eine bessere Anrechnung von Pflegezeiten bei der Rente.

Fraglich sei auch, was ein Landesamt besser könne als das Gesundheitsministerium, sagt Waldmann. Die Freien Wähler halten der CSU-geführten Staatsregierung vor, die Menschen vor der Wahl "mit Brosamen" abzuspeisen, wie Fraktionsvize Peter Bauer sagt: "Die tatsächlichen Probleme - die fehlende Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Pflege - löst das Landespflegegeld aber nicht."

Tatsächlich sind die Möglichkeiten des Freistaats begrenzt, wenn es um grundsätzliche Probleme in der Pflege geht. Bessere Entlohnung, mehr Personal, angenehmere Arbeitsbedingungen - all das sind Themen für die Bundesregierung und die Tarifpartner. Er setze daher auch auf die große Koalition in Berlin und den neuen Gesundheitsminister Jens Spahn, sagt Söder. Am Freitag will Huml bei ihrem CDU-Kollegen für mehr Tempo werben. Ein Problem sei auch, sagt Huml, dass viele Berufsanfänger ihre Ausbildung abbrechen.

Die Gründe dafür liegen für Anna Pfenninger, die Leiterin im Pflegeheim St. Michael, auf der Hand: schlechte Bezahlung, fehlende gesellschaftliche Anerkennung - "die Begleitung von Sterbenden muss honoriert werden", fordert Pfenninger. In St. Michael verlässt man sich schon lange nicht mehr auf externe Bewerbungen, "es gibt sie nicht". Deshalb bildet der Betrieb selbst aus. 14 Schüler unterstützen die etwa 60 Pflegekräfte. Pfenninger weiß sich in einer vergleichsweise komfortablen Lage. Der Träger, die Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz von Paul, stellt gut zehn Prozent mehr Stellen bereit als rechnerisch erforderlich - und damit mehr als in den meisten Häusern.

"Ohne diesen Luxus könnten wir diese Qualität nicht leisten", sagt Pfenninger, in der Pflege brauche es schlicht Personal. Ja, sagt Söder, eine helfende Hand erreiche manchmal mehr als jede Medizin. Sein Besuch solle dazu dienen, das Thema stärker ins Bewusstsein rücken. Die 88-jährige Irene König findet die Idee gar nicht schlecht, allerdings noch ausbaufähig. Politiker, sagt sie zu Söder, "müssten mal ein paar Tage in so ein Pflegeheim - aber dann auch richtig, nicht bloß so, dass ihnen die Schokoladenseite gezeigt wird".

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SZ vom 11.04.2018/amm
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