Grad der Behinderung:"Die hoffen doch darauf, dass man aufgibt"

  • Bei Bayerns Versorgungsämtern gehen monatlich mehr als 25 000 Anträge ein, mit denen Menschen mit Behinderung ihre Beeinträchtigungen einstufen lassen wollen.
  • Nach Einschätzung des Sozialverbands VdK werden viele Entscheidungen deshalb auf mangelhafter Basis gefällt.
  • Den Betroffenen würden Leistungen versagt, die ihnen rechtmäßig zustehen, kritisiert eine Expertin.

Von Dietrich Mittler

Nie wird Thomas Daxer diesen Augenblick vergessen, als Augsburger Ärzte seiner Frau einen Rollstuhl in die Hand drückten und ihr bedeuteten, ihren Mann damit nach Hause zu schieben. "Das wird schon wieder", sagten sie. Dass Daxer (Name geändert) zu diesem Zeitpunkt unter einem schweren Bandscheibenvorfall litt, wollten die Klinikärzte nicht wahrhaben, wie er sagt.

Heute ist Daxer ein gebrochener Mann, körperlich und psychisch. "Die Schmerzen am ganzen Körper, und nun auch noch das Taubheitsgefühl im Gesicht", sagt der 49-Jährige. Er - einst Marathonläufer und Chef eines mittelständischen Unternehmens - versucht ja, tapfer zu bleiben und damit zu leben, dass die vor vier Jahren erfolgte Notoperation in einer Katastrophe endete und er nun bis an sein Lebensende auf den Rollstuhl angewiesen ist. Aber der zermürbende Kampf darum, dass die Schwere seiner Behinderung auch amtlich anerkannt wird, lässt ihn daran zweifeln, ob er das noch lange durchsteht.

Bayernweit gehen pro Monat mehr als 25 000 Anträge beim Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) ein, in denen Menschen mit Behinderung - also Leute wie Thomas Daxer - um eine Einstufung ihrer durch gesundheitliche Schäden bedingten Beeinträchtigungen im täglichen Leben ersuchen. Auf den sieben Versorgungsämtern im Freistaat, die dem ZBFS zugeordnet sind, lastet folglich ein immenser Arbeitsdruck. Pro Jahr werden 300 000 entsprechende Bescheide rausgeschickt, teilt das ZBFS mit. Nur in besonderen Einzelfällen sei daher eine individuell formulierte Begründung der Amtsentscheidung möglich.

Massenverfahren also, in denen nach Einschätzung des Sozialverbandes VdK Bayern die Entscheidungen "zu beinahe 100 Prozent nach Aktenlage" fallen. Das werde den Betroffenen nicht immer gerecht. "Wir beobachten hier seit Jahren, dass die Versorgungsverwaltung gerade bei der Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft zunehmend restriktiv verfährt", heißt es dazu in der Berliner Zentrale des VdK Deutschland. Aber das sei nicht der einzige Grund dafür, dass die Amtsbescheide bei den Betroffenen oft wenig Freude auslösen, denn häufig würden die Entscheidungen der Versorgungsämter "anhand wenig aussagekräftiger Befundberichte der behandelnden Ärzte" getroffen.

Menschen mit Behinderung, aber auch chronisch Kranke, sind also gut beraten, sich Hilfe zu suchen. Thomas Daxer ist, wie er sagt, nicht allein. Er hat sich Beistand bei der im schwäbischen Markt Diedorf lebenden Ursula Baumgartl geholt, die mit dem Coaching von Arbeitnehmern in Krisensituationen ihr Geld verdient - aber eben nicht nur. Baumgartl steht beruflich auch Menschen bei, die darum kämpfen, dass ihnen das Versorgungsamt doch noch den erhofften Grad der Behinderung (GdB) zuspricht. Dieser beziffert in Zehnerschritten bis hin zum GdB 100 die Schwere der Beeinträchtigungen. Im Fall von Thomas Daxer hat Baumgartl mit einem Widerspruch erreicht, dass er letztlich doch als Schwerbehinderter eingestuft wurde: GdB 50, das aber nur zeitlich befristet. Demnächst wird Daxers Fall erneut geprüft. "Mir graut davor", sagt er.

Baumgartl hört diesen Satz häufig - jüngst erst von einer 56-Jährigen, die seit mehr als 30 Jahren ihren körperlich und geistig schwerst behinderten Sohn pflegt und sich dabei physisch und psychisch ruiniert hat. In deren Fall führte erst eine Klage vor dem Sozialgericht zum Erfolg: GdB 50 - auch nur vorläufig. Baumgartls Schlussfolgerung: Den Betroffenen würden nur zu oft "Leistungen versagt, die ihnen aufgrund ihres Zustandes rechtmäßig zustehen". Es geht um die sogenannten Nachteilsausgleiche, die sich sowohl aus dem Grad der Behinderung als auch aus der oft damit einhergehenden Zuordnung in gewisse Gruppen (etwa in Blinde oder Gehbehinderte) ergeben.

Bekommen alle Schwerbehinderten den Ausgleich?

Letztlich sollen diese Ausgleiche den betroffenen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erleichtern. Dazu zählt etwa für schwerbehinderte Arbeitnehmer ein erhöhter Kündigungsschutz, Zusatzurlaub, die Freistellung von zusätzlicher Mehrarbeit und in besonders harten Fällen auch die begleitende Hilfe im Arbeitsleben. Hinzu kommen - je nach Einstufung - steuerliche Vorteile, der Schwerbehindertenausweis oder die bei stark Gehbehinderten begehrten Parkerleichterungen sowie Freifahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Und nicht zu vergessen: die Ermäßigung des Rundfunkbeitrags oder der Telefongebühren für Menschen mit besonders großen Einschränkungen.

Doch oft genug, so glaubt Baumgartl, kämen Menschen, die auf solche Leistungen Anspruch hätten, gar nicht in den Genuss der Nachteilsausgleiche. "Gerade psychische Erkrankungen werden zu häufig nicht sach- und fachgerecht berücksichtigt und mit viel zu niedrigen Sätzen eingestuft", ist sie sich sicher. Der VdK Bayern teilt diese Meinung: "Die Beurteilung psychischer Beeinträchtigungen für die Feststellung eines GdB ist generell immer noch schwieriger und restriktiver als die bei anderen Beeinträchtigungen" heißt es dort. Baumgartl will diesen Missstand nicht hinnehmen. Das sei sie Menschen wie Thomas Daxer schuldig. Aber auch der Allgemeinheit: "Hier geht es auch um das Schaffen leidensgerechter Arbeitsplätze, damit Menschen mit Behinderung so lange wie möglich im Erwerbsleben bleiben können und nicht von den Sozialkassen Leistungen beziehen müssen", sagt sie.

Zentrum Familie und Soziales: "Die weiteren Vorwürfe treffen nicht zu"

Vor einiger Zeit hat sich Baumgartl in einem Schreiben an Ministerpräsident Markus Söder (CSU) über "massive Schwierigkeiten" mit dem Versorgungsamt Augsburg beschwert. "Die Bescheide sind fehlerhaft und schlampig", heißt es da. In einem Fall sei etwa bei einem Patienten, der als Kind einen schweren Hirntumor hatte, die Entscheidung über seinen Grad der Behinderung an eine Herzkrankheit geknüpft worden. Nur, die hatte der Betroffene nie. "Bei einem anderen Patienten wurden Ärzte aufgeführt, die nicht existieren", schob Baumgartl nach.

Häufig seien auch Unterlagen angeblich "verloren" gegangen oder gar nicht erst bei der Behörde eingetroffen. Dabei lasse sich in einem konkreten Fall nachweisen, "dass die betroffene Arztpraxis die Unterlagen bereits zweimal zugesandt hatte". Menschen mit Behinderung würden so immer wieder gezwungen, "sich für ihre Einschränkungen zu rechtfertigen und immer neue Unterlagen beizubringen, die dann letzten Endes nicht anerkannt werden". Nur ein kleiner Teil der Betroffenen, so Baumgartl, bringe überhaupt den Mut auf, ins Widerspruchsverfahren zu gehen oder gar Klage zu erheben. "Den meisten fehlt hier auch schlicht die Kraft, das zu tun", schrieb sie an Söder.

An Stelle des Ministerpräsidenten antwortete ein Ministerialrat des bayerischen Sozialministeriums: "Nach eingehender Prüfung des Sachverhaltes sehen wir keine Anhaltspunkte, die Vorgehensweise des Versorgungsamtes Augsburg rechtlich und dienstaufsichtlich zu beanstanden", hieß es da. Baumgartls Kritik an der fehlerhaften Bewertung der Gesundheitsstörungen könne man "so nicht nachvollziehen". Auf Anfrage der SZ nahm das Zentrum Bayern Familie und Soziales Stellung. Tatsächlich seien dem Versorgungsamt Augsburg zwei Fehler unterlaufen - so im Fall des Patienten, dem fälschlicherweise eine Herzerkrankung zugeordnet wurde. Auch treffe es zu, dass "ein Arzt falsch benannt" worden sei. Aber beides habe "auf die Höhe des Grades der Behinderung keinen Einfluss" gehabt. Nach "gründlicher Überprüfung aller Fälle" sei man zum Ergebnis gekommen: "Die weiteren Vorwürfe treffen nicht zu."

Marian Indlekofer, Geschäftsführer des VdK-Kreisverbands München, will die Arbeit des ZBFS und der bayerischen Versorgungsämter indes nicht in Bausch und Bogen verurteilen, obwohl der VdK das ZBFS oft genug als gegnerische Partei vor Gericht trifft. "Die Arbeitsbelastung im ZBFS ist seit Jahren ansteigend. Zugleich hat der Staat ein Spardiktat verhängt", sagt er, sodass es im ZBFS an Personal fehle. "Ich würde also nicht sagen, dass da böse Menschen sitzen, die irgendjemandem etwas Schlechtes wollen", sagt Indlekofer - und das gelte auch für das Versorgungsamt Augsburg. Laut VdK-Zahlen seien dort die GdB-Anträge sogar etwas erfolgreicher als im restlichen Bayern. Überhaupt sei eine regionale Beurteilung der Versorgungsämter schwierig, weil oftmals Amtsärzte aus anderen Regionen in die Beurteilung eingebunden würden.

Trotz alledem glaubt auch Indlekofer: "Es wird härter." Ulrike Mascher, die VdK-Landesvorsitzende in Bayern, sieht das auch so. "Grundlage bei der Einschätzung des Grades der Behinderung ist die sogenannte Versorgungsmedizin-Verordnung", sagt sie. Dieses bundesweit geltende Regelwerk wird im Augenblick überarbeitet, auch um es an die medizinischen Fortschritte anzupassen. Mascher befürchtet, dass damit Nachteile für die Betroffenen verbunden sind. Schon jetzt sei die Anerkennung einer Schwerbehinderung "einer der häufigsten Gründe, warum Menschen beim VdK Rat suchen". Auch Ursula Baumgartl befürchtet Schlimmes: "Die anstehende Reform verfolgt das Ziel, den Personenkreis für den GdB massiv einzugrenzen. Das wird insbesondere Menschen im Alter von mehr als 50 Jahren treffen."

Thomas Daxer macht sich auf all das seinen eigenen Reim: "Die hoffen doch darauf, dass man aufgibt." Kurz darauf bricht seine Stimme. Der Mann im Rollstuhl, er schämt sich seiner Tränen.

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