Süddeutsche Zeitung

Landesgeschichte:Die Genese des modernen Bayern

In einem neuen Standardwerk nehmen Historiker die vergangenen 200 Jahre in den Blick. Sie zeichnen anschaulich die Entwicklung Bayerns vom Anfang der Monarchie bis in die Gegenwart nach. Und sie erklären, warum das Land seit jeher eine Sonderrolle spielt.

Von Hans Kratzer, Regensburg

Es gibt nur wenige Länder, aus denen so viele berühmte Geschichtswerke hervorgegangen sind wie aus dem vergleichsweise kleinen Bayern. Noch heute zitieren Historiker gerne aus der Chronik des Johannes Aventinus (1477-1534), der als Vater der bayerischen Geschichtsschreibung gilt. Im 19. Jahrhundert ragt dann die achtbändige Ausgabe von Siegmund Riezler heraus, gleichsam der Vorläufer des von Max Spindler herausgegebenen "Handbuchs der bayerischen Geschichte". Ruhm erwarben sich darüber hinaus die Monographien von Michael Doeberl, Benno Hubensteiner, Karl Bosl, Andreas Kraus, Friedrich Prinz, Claus Hartmann und Teja Fiedler bis hin zu den Standardwerken zur Geschichte einzelner Landesteile sowie der bayerischen Kirchen-, Kunst- und Literaturgeschichte.

Jetzt wurde ein Werk neu aufgelegt, das trotz der Fülle des Angebots eine sinnvolle Ergänzung darstellt. Die "Geschichte des modernen Bayern" gehört seit vielen Jahren zum Angebot der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. In deren Auftrag hat ein Team um den Landeshistoriker Manfred Treml das mehr als 700 Seiten starke Standardwerk deshalb komplett überarbeitet, der Verlag Friedrich Pustet gibt es zusätzlich in Lizenz heraus. Was angenehm auffällt: Die Darstellung ist trotz ihres Umfangs übersichtlich, an Karten und Grafiken wird nicht gespart, es wird viel erklärt, zahlreiche Ereignisse, Persönlichkeiten und Institutionen werden mit Abbildungen veranschaulicht. Die Bildquellen werden, wo es nötig ist, ausführlich erklärt. Überdies wirkt die große Menge an Zitaten belebend. Schon wegen des Anmerkungsapparats erfüllt das Buch wissenschaftliche Ansprüche, es ist aber auch gut geeignet, um ein Laienpublikum mit der Geschichte Bayerns vom Anfang des Königreichs bis in die unmittelbare Gegenwart vertraut zu machen. Ein Mehrwert ergibt sich aus dem Umstand, dass Originalquellen und Dokumente zu den vier Hauptkapiteln im Netz verfügbar sind (https://www.blz.bayern.de/publikation/die-geschichte-des-modernen-bayern.html).

Tausend Jahre Kontinuität in Altbayern

Bayern hat in den vergangenen zwei Jahrhunderten rasante Modernisierungsprozesse erlebt. Dies allgemein verständlich und differenziert darzulegen, ist den Verfassern gut gelungen. Nach der Lektüre versteht man umso besser, warum Bayern so vielfältig und eben anders geprägt ist als die übrigen Bundesländer und worin sein "Sonderbewusstsein" und die manchmal sperrige Rolle in Deutschland und Europa gründet. "Wir wollen verdeutlichen, dass deutsche und europäische Geschichte ohne den Blick auf die Länder und ihre Historie nicht möglich ist", sagt Treml. Die innerhalb der Bundesrepublik Deutschland recht eigene Staatsqualität reicht im Falle Bayerns weit in die Vergangenheit zurück: Beim modernen Staatsbayern sind es mehr als 200 Jahre, der altbayerische Landesteil weist gar eine tausendjährige territoriale Kontinuität auf.

Das Bewusstsein von Veränderung und Tradition in der politischen Geschichte Bayerns zu erhalten und weiterzutragen, hält Treml für eine bildungspolitische Aufgabe. Im künftigen Europa werde es entscheidend vom historischen Sinn der Bewohner abhängen, ob eine Region wie Bayern Freiräume behält oder sich als abhängiger Untermieter anzupassen hat, sagt Treml. Als ehemaliger Direktor des Museumspädagogischen Zentrums München (MPZ) sowie als Vorsitzender des Verbandes bayerischer Geschichtsvereine betrachtet er es als eines seiner Hauptthemen, den Geschichtsunterricht in seiner Substanz vor wachsenden Anfechtungen zu schützen. "Was da schon alles geplant war, greislig", sagt Treml dazu. "Deshalb müssen wir alles tun, damit Regional- und Landesgeschichte in den Schulen erhalten bleibt."

Das förderale Denken stärken

Hoffnung erweckt in ihm, dass am Institut für Bayerische Geschichte in München viele engagierte junge Historiker und Historikerinnen heranwachsen. Einige von ihnen, etwa Matthias Bischel und Daniel Rittenauer, haben auch an diesem Band mitgearbeitet. Dass es gelingen kann, Politiker grundsätzlich vom Wert der Geschichte zu überzeugen, beweist für Treml die zuletzt durch politischen Einfluss forcierte Öffnung des historisch bedeutsamen Inseldoms auf Herrenchiemsee.

Überhaupt, sagt Treml, leiste die Geschichtswissenschaft einen Beitrag, das föderale Denken zu stärken, das gerade in der Corona-Zeit ins Wanken geraten ist und in den Geruch der Kleinstaaterei geriet. Und doch seien die besondere Rolle Bayerns, sein Selbstbewusstsein und sein Profil ein Ergebnis der vergangenen 200 Jahre. Treml hält modellhafte föderative Elemente, wie sie in Bayern zum Tragen kommen, bei allen Problemen durchaus für ein heilsames Rezept in anderen Regionen Europas, etwa in Katalonien. Durch den Zentralismus werde ja keineswegs alles besser, sagt er, schon weil sich dort politische Fehler multiplizierten. Angesichts der unsicher erscheinenden Zukunft gibt das Buch nicht zuletzt den Rat: Nicht verzagen, das Land Bayern hat gute Rezepte zu bieten.

Manfred Treml (Hg.), Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat. Verlag Friedrich Pustet, 2021, 736 Seiten, 39,95 Euro. Das Buch ist weiterhin auch gegen eine Gebühr bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit erhältlich.

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