Süddeutsche Zeitung

Geschichte:88 Cent Kaltmiete - im Jahr

Lesezeit: 5 min

150 Bedürftige können in Augsburg zu diesem Preis wohnen. Das liegt an der Stiftung von Jakob Fugger - seine Nachkommen prägen die Stadt noch heute.

Von Christian Rost

Petra Dirbach steht in ihrer Augsburger Wohnung am Fenster und sieht hinaus gen Westen. Die 48-Jährige blickt direkt auf den Perlachturm und das Rathaus von Augsburg. Wenn die Sonne untergeht, bilden die beiden markanten Bauten einen Schattenriss. Petra Dirbach ist noch immer hingerissen von diesem Bild, obwohl sie schon seit zehn Jahren in dieser Wohnung lebt. "Das ist mein Loft", strahlt sie und ist dankbar, dass sie sich das als halbtags arbeitende, alleinerziehende Mutter von drei Kindern leisten kann.

Es handelt sich natürlich nicht um ein Loft, sondern um eine einfache Drei-Zimmer-Wohnung, und selbst die könnte sie nicht bezahlen, wenn nicht ein gewisser Jakob Fugger im Jahr 1521 eine Stiftung gegründet hätte, die Wohnraum für bedürftige Augsburger schuf. Auf Geheiß von "Jakob, dem Reichen" entstand die Fuggerei, die älteste Sozialsiedlung der Welt. Bald wird sie 500 Jahre alt, und schon jetzt feiern die Fugger ein Jubiläum: Vor 650 Jahren kam der erste Fugger nach Augsburg. Ein junger Weber suchte im damaligen Zentrum der Textilproduktion sein Glück.

Hans Fuggers Ankunft ist einem Eintrag im Steuerbuch der Stadt von 1367 zu entnehmen. "Fugger ist angekommen, gab 44 Pfennig, er ist würdig", wurde da notiert. Bettelarm war der Mann, der aus einem kleinen Ort südlich von Augsburg, Graben, übersiedelte, also nicht, wenn er Steuern zahlen konnte. Und er hatte sich den richtigen Ort ausgesucht. Während in der Handelsstadt Venedig eine Pestwelle wütete und 100 000 Einwohner dahinraffte, blühten die Geschäfte mit Textilien in Augsburg. Mit der Fertigung von Barchent, einem Mischgewebe aus Baumwolle und Flachs, wurde die Stadt reich - und mit ihr auch die Familie Fugger.

Die Nachkommen des Webers schufen ein Imperium mit Handelsstützpunkten in Venedig und Nürnberg, geschäftlichen Verbindungen zum Haus Habsburg und engem Kontakt zur römischen Kurie, deren Geldgeschäfte die Fugger übernahmen. Jakob Fugger (1459-1525) ist der bekannteste Spross. Der US-amerikanische Autor Greg Steinmetz nannte ihn in einer Biografie "the Renaissance banker". Er sei der reichste Mann der Weltgeschichte gewesen, "one of the most influential businessmen in history", so Steinmetz. Und dieser Jakob Fugger sorgte mit seiner Stiftung dafür, dass Bedürftige wie Petra Dirbach heute ein Zuhause haben.

Die Fuggerei ist eine Stadt in der Stadt. In den 67 Häusern mit den typischen Renaissance-Treppengiebeln leben 150 Menschen in 142 Wohnungen zu Konditionen, die es sonst nirgendwo gibt. Die Jahreskaltmiete beträgt nach wie vor einen Rheinischen Gulden, also 88 Cent, außerdem sind drei Gebete täglich für das Seelenheil der Stifterfamilie zu sprechen - das ist Bestandteil des Mietvertrags. Wer sich für eine Wohnung bewerben möchte, muss Augsburger, katholisch und bedürftig sein. Ob die Gebete von den Bewohnern tatsächlich gesprochen werden, weiß man nicht. "Das ist Vertrauenssache", wie Maria Elisabeth Gräfin Thun-Fugger sagt. Sie ist Senioratsvorsitzende der insgesamt neun Fuggerschen Stiftungen, die nicht zum eigentlichen Familienvermögen zählen, sondern eigenständig soziale Projekte unterstützen und auch im Mäzenatentum engagiert sind.

Das Familienseniorat der Fugger leitet die Stiftungen ähnlich wie ein Aufsichtsrat. In dem Gremium sind jeweils die Chefs der drei Fuggerschen Familienzweige vertreten: die Linie Fugger-Kirchberg, die Linie Fugger-Babenhausen und die Linie Fugger von Glött. Die Familien leben auf Schlössern in der Nähe von Augsburg, im Allgäu und an der Grenze zu Baden-Württemberg und traten bislang öffentlich kaum in Erscheinung. "Tue Gutes und rede nicht darüber" - an dieses Motto hielt man sich. "Sie spielen sich nicht in den Vordergrund", sagt auch Augsburgs Oberbürgermeister Kurt Gribl, der ihr Engagement gar nicht hoch genug schätzen kann.

Die Stadt spart sich mit der Unterbringung von 150 Bedürftigen in der Fuggerei auf Stiftungskosten über die Jahre gesehen viele Millionen Euro an Sozialleistungen. Dass es die Fuggerei überhaupt noch gibt, ist für den OB nicht selbstverständlich. "In der Geschichte hätte es viele Gelegenheiten gegeben, sie verschwinden zu lassen." Die Fugger aber haben sie selbst nach schweren Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wieder aufbauen lassen. Auch für den Tourismus hat das alte Kaufmannsgeschlecht in der Stadt etliche bleibende Werte geschaffen. "Viele Sehenswürdigkeiten sind untrennbar mit der Familie verbunden", so Gribl. Jakob Fugger hatte auch in Kirchen investiert. So ließ er die Grabkapelle in St. Anna und die Prädikatur in St. Moritz errichten.

Mehr als zwei Millionen Touristen haben die Fuggerei schon besucht. Sie zahlen vier Euro Eintritt, um durch das einzigartige Gebäudeensemble zu flanieren. Ein Audio-Guide führt die Besucher von Haus zu Haus und macht auf Besonderheiten aufmerksam. Auf die Griffe an den Glocken vor den Haustüren zum Beispiel - jeder hat eine andere Form, sodass die Bewohner auch im Dunkeln ertasten können, ob sie angekommen sind. Etwas anachronistisch wirkt es heute, dass das Tor zur Fuggersiedlung nachts von 22 bis 5 Uhr geschlossen wird.

Bewohner, die spät nach Hause kommen, zahlen dem Nachtwächter einen Obolus - bis Mitternacht sind es 50 Cent, danach ein Euro. Als Nachtwächter wechseln sich Fuggereibewohner ab. Auch Ilona Barber, die mit drei Hunden und drei Katzen in einer der Wohnungen lebt, übernimmt regelmäßig den Dienst. Das Geld, das die Nachtwächter einnehmen, dürfen sie behalten. An den vielen Touristen stört sich Ilona Barber übrigens nicht. "Es ist doch toll, in einem Museum zu wohnen", sagt sie. Das stete Kommen und Gehen bietet gerade den älteren Fuggereibewohnern Abwechslung. In anonymen Sozialbauten am Rande der Stadt würden sie womöglich vereinsamen.

Natürlich ist die Fuggerei nicht gedacht als Paradies für Leute, die einfach günstig wohnen wollen in einem historischen Umfeld. Sie ist eine soziale Einrichtung für Menschen, die in prekären Situationen leben. Manche wurden durch einen Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen, bei einigen reicht die Rente nicht zum Leben, andere haben Probleme mit Alkohol. Weil es in diesen Fällen nicht ausreicht, nur eine günstige Unterkunft zu stellen, kümmern sich im Auftrag der Stiftung zwei Sozialarbeiterinnen um die Fuggereibewohner.

Doch wie finanziert sich ein so gigantisches Sozialprojekt, das jedes Jahr allein für den Unterhalt und die Sanierung der Gebäude zwischen einer halben und einer Million Euro verschlingt? "Mit Holz", sagt Wolf-Dietrich Graf von Hundt, der als Administrator das Tagesgeschäft rund um die Stiftungsbelange leitet. Nach seinen Angaben verfügen die Fuggerschen Stiftungen über 3200 Hektar Wald. Der werde nachhaltig bewirtschaftet. Ein Spruch auf dem Torbogen des Stiftungsforstamtes in Laugna im Landkreis Dillingen erinnert die Förster stets daran: "Heget den Wald, er ist des Wohlstands sicherer Quell, schnell verheert ihn die Axt, langsam nur wächst er heran. All unser Handeln und Tun, die Enkel werden es richten. Sorgen mit Fleiß wir zur Zeit, dass sie uns rühmen dereinst." Schon 1660 hatten die Nachfahren von Jakob Fugger dessen gestiftetes Kapital in Liegenschaften umgewandelt. So machten sich die Stiftungen unabhängig von Währungskrisen.

Mit Forstwirtschaft kennt sich auch Maria Elisabeth Gräfin Thun-Fugger aus. Sie hat selbst Waldbesitz und Immobilien, das Vermögen stammt ebenfalls aus dem Erbe von Jakob Fugger. Die Stiftungen leitet sie seit dem Tod ihres Vaters Ende der Sechzigerjahre ehrenamtlich, ihr steht lediglich das Recht zu, in der Fuggerei Pferde unterzustellen. Gerade ist sie mit einer Reform beschäftigt. Sie wolle mehr junge Menschen, die durch das soziale Netz gefallen seien, unterstützen und ihnen Wohnraum in der Fuggerei anbieten.

Vor zehn Jahren noch lebte kein einziges Kind in der Sozialsiedlung, ausschließlich ältere Menschen und Kinderlose waren hier untergebracht. Nun sind es mehr als ein Dutzend Buben und Mädchen, die durch die Gassen toben. Alleinerziehende oder junge Familien sollen aber nur solange bleiben, bis sie sich wieder eine eigene Wohnung leisten können. Thun-Fugger betrachtet die Fuggerei als Projekt, das Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Dieses Konzept könnte beispielhaft sein für andere potenzielle Stifter. "Wir wollen nun verstärkt zeigen, dass sich bürgerschaftliches Engagement lohnt", sagt Thun-Fugger.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3707071
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.10.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.