Urteil wegen Strafvereitelung im AmtPolizist hat gegen Enamullah O. „ganz bewusst nichts ermittelt“

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Der angeklagte Polizist (links) wurde wegen Strafvereiteilung im Amt verurteilt. Rechts sein Anwalt Frank Kumpolt.
Der angeklagte Polizist (links) wurde wegen Strafvereiteilung im Amt verurteilt. Rechts sein Anwalt Frank Kumpolt. (Foto: Andreas Arnold/dpa)
  • Ein Polizist wurde wegen Strafvereitelung im Amt zu fünf Monaten Bewährungsstrafe und 3000 Euro Geldstrafe verurteilt.
  • Der 29-Jährige ermittelte nach einem Übergriff am 29. August nicht gegen den späteren Messerangreifer von Aschaffenburg Enamullah O.
  • Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Polizist von Verletzungen der Frau wusste, aber bewusst nicht reagierte.
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Ein Polizist erhält eine Bewährungsstrafe, weil er eine Tat des späteren Messerangreifers von Aschaffenburg nicht gründlich untersuchte. Der Richter spricht von „massiven Fehlern“.

Von Max Weinhold Hernandez, Alzenau

Wegen Strafvereitelung im Amt in einem minder schweren Fall hat die Zweigstelle Alzenau des Amtsgerichts Aschaffenburg am Dienstag einen Polizisten zu einer Bewährungsstrafe von fünf Monaten und einer Geldstrafe in Höhe von 3000 Euro verurteilt. Der 29-Jährige handelte nach Ansicht von Richter Torsten Kemmerer strafbar, weil er nach einem Übergriff auf eine Frau nicht gegen den späteren Messerangreifer von Aschaffenburg ermittelte. Der Angeklagte habe von Verletzungen der Frau gewusst und Fotos davon gesehen, „und er hat nicht reagiert“, sagte Kemmerer. Er habe es für möglich gehalten, dass die Tat passiert sei, „aber sie ist ihm egal gewesen“.

Hintergrund des Verfahrens gegen den Polizeiobermeister aus Alzenau (Landkreis Aschaffenburg) ist ein Vorfall vom 29. August vergangenen Jahres. Richter Torsten Kemmerer sah es als erwiesen an, dass der 28-jährige Afghane Enamullah O. seine ukrainische Partnerin am späten Abend in einer Flüchtlingsunterkunft in der unterfränkischen Kleinstadt gewürgt und mit einem Fleischerbeil verletzt hat. Der angeklagte Polizist und drei Kollegen nahmen O. an dem Abend in Gewahrsam, weitere nennenswerte Maßnahmen leiteten sie allerdings nicht ein.

Die Staatsanwaltschaft Coburg ermittelte deshalb zunächst gegen alle vier Polizisten, als der Vorfall infolge des Messerangriffs von Aschaffenburg im Januar 2025 über die Alzenauer Polizeidienststelle hinaus bekannt wurde. Strafbar machte sich aus Sicht von Oberstaatsanwalt Christoph Gillot aber nur der 29-Jährige als für den Fall zuständiger Sachbearbeiter. Das Gericht teilte die Auffassung des Oberstaatsanwalts.

Gillot hatte am Dienstag ein Jahr und sechs Monate Gefängnis für ihn gefordert. Sein Plädoyer glich einer Schulung in den Grundlagen der Polizeiarbeit, die vom Angeklagten und seinen Kollegen missachtet worden seien: das Aufnehmen von Personalien, die Befragung von Zeugen, das Sichten von Handyvideos und weiteres mehr sei kaum geschehen. Hinweise auf ein Messer durch Zeugen hätten die Polizisten ebenso ignoriert wie Aussagen zu Würgemalen am Hals der Frau.

Gillot unterstellte dem Angeklagten Gleichgültigkeit. „Man könnte mal hinfahren und fragen: War da was mit Würgen und Messer?“, sagte er zum Angeklagten, der von den Verletzungen gewusst, aber „ganz bewusst nichts ermittelt“ habe: „Null, nada, einfach nix.“ Zwar hätten alle Polizisten „erhebliche Fehler“ gemacht, aber: „Der Sachbearbeiter ist verantwortlich.“ Der Angeklagte habe es – was Voraussetzung für die Strafbarkeit ist – für möglich gehalten, dass eine Straftat vorliegt und gewusst, dass der Vorfall ohne seine Handlung nicht verfolgt würde. 

Verteidiger Frank Kumpolt hatte dem widersprochen und für einen Freispruch plädiert. Aus seiner Sicht war nicht eindeutig bewiesen, dass O. die Frau wirklich verletzt hat. Kumpolt stellte die Glaubwürdigkeit der teils widersprüchlichen, teils kohärenten Zeugenaussagen infrage. Auch sei ungewiss, ob der fotografierende Kollege den Angeklagten überhaupt über die Verletzungen informiert habe. So schlimm das Verhalten des Angeklagten gewesen sei, habe er lediglich grob fahrlässig gehandelt, nicht aber vorsätzlich, was ebenfalls Voraussetzung für die Strafbarkeit ist.

Zu Prozessbeginn am Montag hatten sich erhebliche Mängel in der Polizeiarbeit offenbart. Die vier Beamten nahmen fast keine Personalien möglicher Zeugen des Vorfalls auf und befragten sie nicht, obwohl ein Polizist die Verletzungen der Frau fotografiert hatte, die auf einen scharfen Gegenstand als Tatwaffe hindeuteten.

Richter Kemmerer sagte, es stehe „zweifelsfrei“ fest, dass O. die Frau gewürgt habe, wenngleich sie selbst wegen früher starken Alkoholkonsums „als Hauptbelastungszeugin eine einzige Katastrophe“ gewesen sei. Für das Würgen sprächen neben der Schilderung von Zeugen die dokumentierten Verletzungen an ihrem Hals. Die Schnittverletzungen seien entstanden, als die Frau versucht habe, sich der Umklammerung des Mannes mit dem Messer zu entledigen, sagte er.

All dies zu ermitteln, wäre für einen Streifenpolizisten wie den Angeklagten ein „enormer Aufwand“ gewesen, erwähnte der Richter zu seinen Gunsten. Zumindest aber sei er verpflichtet gewesen, „die Fakten zu sammeln“ und sie der Staatsanwaltschaft vorzulegen. „Und sei es auch bei einer schwierigen Klientel, wo man erwarten kann, dass nichts bei rumkommt.“ So brutal es klinge, müsse er von „absoluter Faulheit“ des Angeklagten sprechen. Zugleich bemängelte er die Arbeit der Kollegen in der Dienstgruppe des Angeklagten, insbesondere seines Vorgesetzten. „Er war völlig allein auf sich gestellt“, sagte der Richter über den 29-Jährigen.

Vor der Urteilsverkündung hatte am Donnerstag auch der Chef der Polizeiinspektion Alzenau Kritik an der Arbeit seiner Kollegen geübt. „Er hätte mal nachfragen müssen vor Ort bei den Beteiligten, was in der Nacht geschehen ist“, sagte er über den Angeklagten. Nachdem ihm sein Kollege auf die Fotos hingewiesen habe, „hätte als Folge kommen müssen: Was ist da passiert, warum ist die verletzt worden?“ Der 55-Jährige kritisierte auch den Dienstgruppenleiter aus der Schicht des Angeklagten. Er hätte von dem Mann erwartet, dass er „auf die Kollegen zugeht, um abzuklären, welche weitere Maßnahmen ergriffen wurden“.

Etwa fünf Monate nach dem Vorfall in Alzenau griff Enamullah O. eine Krippengruppe auf einem Ausflug im Aschaffenburger Park Schöntal an. Der Geflüchtete steht deshalb zurzeit in einem Sicherungsverfahren vor dem Landgericht Aschaffenburg. Sein Verteidiger räumte dort ein, dass O. im Schöntal einen Jungen und einen Mann tötete, der den Kindern zu Hilfe kam. Ein zweijähriges Mädchen, einen weiteren Helfer und eine Erzieherin verletzte er schwer. Die Staatsanwaltschaft strebt in dem Verfahren die dauerhafte Unterbringung des Mannes in einer psychiatrischen Klinik an, weil er nach dem vorläufigen Gutachten eines Sachverständigen unter einer paranoiden Schizophrenie leidet. Er soll deshalb schuldunfähig sein.

Bereits vor diesen beiden Taten hatte die Polizei vielfach gegen O. ermittelt, er war unter anderem wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt und dreimal vorläufig in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden.

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In dem Amtsgerichtsverfahren gegen den Polizisten drängte sich deshalb die Frage auf, ob der Messerangriff von Aschaffenburg hätte verhindert werden können, wenn der Angeklagte und seine Kollegen den Fall ernster genommen hätten. Dann hätte O. nach dem Vorfall von Alzenau womöglich in Untersuchungshaft gesessen oder wäre in einer Klinik untergebracht gewesen. Oberstaatsanwalt Gillot legte Wert darauf, dass die Tat von Aschaffenburg dem Polizisten nicht anzulasten sei. Man könne nicht annehmen, dass diese verhindert worden wäre, „weil wir es nicht wissen. Wir können nicht sagen, ob er wieder draußen gewesen wäre.“

Richter Kemmerer betonte in seiner Urteilsbegründung, es gebe „so viele Unwägbarkeiten“, dass es unmöglich sei, diese Frage zu beantworten. „Das ist hier nicht das Thema, auch wenn das in der Presse immer mal auftaucht“, sagte er. Mit dem angeklagten Polizisten stehe „ein Mensch im Mittelpunkt, der massive Fehler gemacht hat, aber der immer mit diesen Fragen konfrontiert wird“. Für ihn bedeute das „eine besondere Belastung“.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Dem Angeklagten droht nach seiner Verurteilung ein Disziplinarverfahren bei der Polizei.

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