Sie zeichnet mit den Zeigefingern eine Breze in die Luft und zeigt auf das gewünschte Gebäck. Julia Probst steht an der Bäckereiausgabe im Supermarkt in Weißenhorn (Kreis Neu-Ulm). Kurze Verschnaufpause zwischen Rechnungsprüfungsausschuss und Stadtratssitzung. Probst ist die erste gehörlose Stadträtin Bayerns. Am 16. Mai wurde sie für die Grünen im Stadtrat Weißenhorn vereidigt. Sie lebt Inklusion mit einer Selbstverständlichkeit vor, wie sie in weiten Teilen der Gesellschaft erst noch ankommen muss.
Die parlamentarische Sommerpause steht vor der Tür, die Mittagshitze schleppt sich bis in den Abend. Probst öffnet ihr Calippo-Cola-Eis. "Ich bin hier aufgewachsen. Hier kennt jeder jeden", sagt sie auf dem Weg vom Rathaus zur Stadtratssitzung in der Fuggerhalle. Wie bestellt rollt in dem Moment ein Auto vorbei, Fahrerin und Probst winken sich herzlich zu.
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Bei den Kommunalwahlen 2020 hatte sie die drittmeisten Stimmen für die Grünen in Weißenhorn, doch die Partei erhielt nur zwei Plätze im Stadtrat. Nachdem eine Parteikollegin aus dem 14 000-Einwohner-Städtchen wegzog, rückte Probst nach. Im Gespräch sind ihre blauen Augen auf die Lippen ihres Gegenübers fixiert. Julia Probst hört, soweit das möglich ist, mit den Augen. Sie versteht ihr Gegenüber anhand der Lippenbewegung und Gestik verblüffend präzise.
Dass Julia Probst ein besonderes Talent dafür hat, Menschen zu verstehen, ob sie nun verstanden werden wollen oder nicht, hat sie schon früher unter Beweis gestellt. Probst twitterte seit der WM 2010 live auf ihrem Kanal den #Ableseservice. Sie übersetzte die Insiderdialoge, die sich Fußballerspieler und Trainer auf dem Spielfeld zurufen. 50 000 Menschen folgen ihr auf Twitter. Sie hat auf diesem Weg dazu beigetragen, dass inzwischen immer mehr Sportlerinnen und Sportler auf dem Feld Flüsterpost spielen und sich die Hand vorhalten, wenn sie miteinander reden.
Barrierefreiheit und Inklusion sollen automatisch mitgedacht werden
"Es ist nicht nur wichtig, sondern sollte auch selbstverständlich sein, dass Menschen mit Behinderung Politik machen. Ich bin ja auch nicht nur die Stadträtin mit Behinderung." Probst will eine Form der Teilhabe etablieren, bei der Barrierefreiheit und damit Inklusion automatisch mitgedacht werden. Für sozialverträglichen Wohnraum macht sie sich stark, will schnelleres Internet durchsetzen, zukunftsfähige Entscheidungen für ein "liebens- und lebenswertes Weißenhorn" treffen. Ihre Triebfeder sei es, Ungerechtigkeiten zu beseitigen, nicht nur die, die sie selbst erfahre, betont sie.
Beim Stichwort Barrierefreiheit denken viele an die Hindernisse von Menschen im Rollstuhl. Bahnsteigkanten, Treppen. Die Barrieren von rund 15 000 Gehörlosen in Bayern sind weniger deutlich sichtbar, aber nicht weniger einschränkend: Es mangelt nicht nur an genügend Dolmetschern und vielen Fernsehsendungen fehlt der Untertitel oder deren Qualität ist schlecht. So wie Rollstuhlfahrern der Weg zum Bahngleis muss Gehörlosen der Weg zu öffentlichen Informationen geebnet werden.
Zum Beispiel: Ansagen am Bahnsteig und im Zug müssten nicht nur für Hörende per Durchsage, sondern auch für Gehörlose auf den Bildschirmen angezeigt werden, fordert Probst. "Hörende sind sich dessen nicht bewusst, wie hörzentriert die nichtbehinderte Welt ist." Dass behinderte Menschen nicht mitgedacht werden, liege daran, dass sie erst gar nicht mit am Tisch sitzen, meint die Stadträtin. Behinderte Menschen fänden in der Gesellschaft kaum statt durch die "gewollte Separierung der Sonderschulwelten", sagt sie.
Im Kanzleramt beschwerte sie sich über das Fehlen eines Gebärdensprachedolmetschers
Nach dem Besuch eines Gehörlosenkindergartens ging Probst selbst auf eine Grundschule für Hörende. Die Gebärdensprache lernte sie mit 17. Fast acht Millionen schwerbehinderte Menschen leben in Deutschland, ein großer Teil der Gesellschaft und eine wichtige Wählergruppe, findet sie. Repräsentativ ist der Bundestag in dieser Hinsicht bei weitem nicht, von der Kommunalpolitik ganz zu schweigen. Probst bleibt hartnäckig, bis ihre Forderungen gehört werden. Am Tag der offenen Tür im Bundeskanzleramt 2010 beschwerte sie sich, dass kein Gebärdensprachendolmetscher anwesend sei. Ein Jahr später dasselbe Spiel, die Bundeskanzlerin versprach ihr persönlich, das im nächsten Jahr zu ändern. 2012 saß Probst wieder in den Reihen - ebenso ein Dolmetscher.
Das Eis ist aufgegessen, Probst winkt ihre Dolmetscherinnen in die Fuggerhalle. Bürgermeister Wolfgang Fendt eröffnet die Stadtratssitzung, 26 Programmpunkte: Glasfaserausbau, Papiertonnen, Fahrradständer. Dass gegenüber von Julia Probst ein extra Tisch für ihre beiden Dolmetscherinnen steht, gehört zur Stadtratssitzung wie das vereinzelte Gegrummel der CSU zum Thema Fahrradnetzausbau. Es sind zwei Dolmetscherinnen, weil es volle Aufmerksamkeit braucht, die stundenlange Debatte zu übersetzen. Die Kosten dafür trägt die Stadt, eine Fördermöglichkeit gebe es nicht, sagt Fendt. "Es ist wichtig, dass viele verschiedene Menschen im Stadtrat sitzen, die alle eine neue Perspektive mitbringen", so der Bürgermeister. Probst wirkte auch schon am Drehbuch des Saarbrückener Tatorts "Totenstille" mit, auch um Gehörlosigkeit realitätsnah abzubilden.
Programmpunkt Nummer drei von 26, die Dolmetscherin reibt sich die Schläfen. Julia Probst sitzt nach vorne gebeugt, gestützt auf ihre Arme und hört ihr konzentriert zu. Die Stadtratsmitglieder sind zu weit weg, um deren Lippen zu lesen. Wenn Probst sich zu Wort meldet, führt sie ihr Anliegen selbst aus und die Dolmetscherin wiederholt es lautsprachlich, damit die große Runde es versteht. Audismus nennt sich die Diskriminierung von gehörlosen Menschen. Das sei ihr im Stadtrat einmal passiert, ansonsten fühle sie sich gut integriert, sagt sie.
"In Deutschland hat es ja leider Tradition, die Bedürfnisse von Gehörlosen zu ignorieren", sagt Probst. Ende Juni leitete die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland in Sachen Barrierefreiheit ein. Alltagswerkzeuge wie öffentliche Verkehrsmittel, Bankdienstleistungen oder Online-Geschäfte sind in Deutschland nicht jedem so zugänglich, wie es die EU-Richtlinie vorsähe. Das trifft auch auf 25 weitere EU-Staaten zu.
Sie sei dankbar, sagt Julia Probst, als Stadträtin so viel lernen zu dürfen und hoffe, dass das umgekehrt genauso sei.