Streit um Wernher-von-Braun-Gymnasium:"Tut alles, damit dieser Name verschwindet"

Darf eine staatliche Schule nach einem Mann benannt werden, der SS-Sturmbannführer war und Hitlers V2 entwickelte? Im bayerischen Friedberg entschied man sich dafür. Anlässlich des 100. Geburtstags von Wernher von Braun debattierte die Schule nun über ethische Dimensionen der Wissenschaft. Mit dabei ist ein ehemaliger KZ-Häftling.

Stefan Mayr

David Salz geht am Stock und hat Narben im Gesicht, die ihm ein KZ-Wachmann zugefügt hat. Er trägt ein dunkelblaues Hemd mit dunkelblauer Krawatte. Die einzige helle Stelle ist auf dem Sakko-Revers eine Anstecknadel in Form einer wehenden Israel-Flagge. Der 83-Jährige spricht in der Sporthalle des Friedberger Wernher-von-Braun-Gymnasiums vor 300 Schülern. "Mein Herz zittert", sagt er, "ich hätte nie gedacht, dass ich freiwillig eine Schule betrete, die diesen Namen trägt."

David Salz

"Mein Herz zittert", sagt David Salz vor 300 Schülern. Um im unterirdischen KZ etwas zu sehen, musste er seine Augen mit Urin auswaschen.

(Foto: Stefan Puchner)

Salz berichtet über seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern Auschwitz und Dora-Mittelbau. Letzteres war ein unterirdischer Bunker, in dem Salz und 60.000 andere Zwangsarbeiter Wernher von Brauns Vergeltungswaffe V2 herstellen mussten. 20.000 Menschen starben unter unmenschlichen Umständen. "Ein Wort von Braun hätte genügt, um die Bedingungen zu verbessern", sagt Salz. "Was er getan hat, war nicht menschlich, er wollte die Wunderwaffe für den Endsieg bauen. Er ist kein Vorbild für die Jugend, es ist frevelhaft, eine Schule nach diesem Mann zu benennen." Die Teenager hören Salz eineinhalb Stunden mucksmäuschenstill zu. Nach seinem Vortrag schluchzen einige.

Darf eine staatliche Schule nach einem Mann benannt werden, der NSDAP-Mitglied war und SS-Sturmbannführer? Der Adolf Hitlers Vergeltungs- und Vernichtungsrakete entwickelte? Der dabei ins KZ Buchenwald fuhr, um sich geeignete Zwangsarbeiter auszusuchen? Diese Frage wurde in Friedberg schon vor Jahren hitzig diskutiert, als Brauns Vergangenheit in der NS-Zeit ans Tageslicht gekommen war. Die schulischen Gremien entschieden sich knapp dafür, den Namen zu behalten. Allerdings unter der Bedingung, dass "eine differenzierte Auseinandersetzung" mit dem Namensgeber stattfinde.

Dass diese Auseinandersetzung schwierig ist, weiß Direktor Bernhard Gruber: "Wir nehmen den Schulnamen als Herausforderung und pädagogische Verpflichtung an." Anlässlich des 100. Geburtstags von Brauns am heutigen Freitag veranstaltet das Gymnasium ein Symposium über die ethische Dimension der Wissenschaft. Zudem gestalteten die Schüler eine Ausstellung, durch die sie selbst Besucher führen.

Für das bayerische Kultusministerium ist es kein Problem, dass eine Schule nach von Braun benannt ist: Er habe zwar "den menschenverachtenden Kriegszielen des Dritten Reichs gedient", sagt ein Sprecher, aber er sei eben auch "ein herausragender Wissenschaftler" gewesen, der in den USA den Traum der Mondlandung mit verwirklicht habe. Über von Braun sei "ein höchst differenziertes Urteil zu fällen". Es lohne sich jedenfalls für die Schüler, sich "intensiv" mit von Braun "in seinen vielfältigen Schattierungen auseinanderzusetzen".

"Unser einziges Essen war der Schnee"

David Salz' Eltern wurden ermordet, als er 13 Jahre alt war. Danach musste er sich drei Jahre lang alleine durch die Hölle der KZs schlagen. Mehrere Male entging er nur knapp dem Tod, dreimal retteten ihm andere Menschen das Leben. "Das waren meine drei Schutzengel", sagt Salz mit brechender Stimme. Von Auschwitz nach Dora-Mittelbau wurde er im halboffenen Kohlewaggon gefahren. "Neun Tage lang durch den Winter, unser einziges Essen war der Schnee." Viele erfroren. Die Lebenden mussten auf den Toten sitzen. Nachts wurden die Leichen aus dem Wagen geworfen.

In der unterirdischen Raketenfabrik herrschten "mörderische Verhältnisse", so Salz, die "noch schlimmer" waren als in Auschwitz. Es gab keine Betten, nur feuchtes Stroh auf Betonboden. Für Juden habe es kein Bad, keine Toiletten gegeben. "Die Menschen machten unter sich." Wer dabei erwischt wurde, wurde erschossen. Die verklebten Augen wusch sich Salz mit Urin aus. "Es war die einzige Möglichkeit, etwas zu sehen." Mancher Gefangene kam monatelang nicht ans Tageslicht, viele erstickten im Schlaf. Irgendwann kam Salz in den "Siechenblock". Das Hungergeschrei, "wenn man denkt, die Gedärme zerreißen", werde er nie vergessen. Als er befreit wurde, wog er 37 Kilo.

Auf Einladung des Frauenforums und der Stadt spricht Salz auch im Friedberger Schloss. Vor Erwachsenen äußert er sich noch deutlicher: "Tut alles, damit dieser Name vom Gymnasium verschwindet." Es gibt starken Applaus - wenn auch nicht von allen Zuhörern. Historiker Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitgeschichte sagt: "Es gab auch in Unrechtsregimen viele Menschen, die moralische Entscheidungen getroffen haben." Zum Beispiel die "Schutzengel", die ihr Leben riskierten, um David Salz das Leben zu retten. Zarusky: "Das sind geeignete Namensgeber für eine Schule."

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