Das Jahr 1972 ist als ein Jahr der sehnsuchtsvollen Leichtigkeit in Erinnerung geblieben, nicht zuletzt wegen der so heiter begonnenen Olympischen Spiele in München. Als Martin Geiger damals das Amt des Wasserburger Bürgermeisters antrat, hingen allerdings finstere Wolken über der Stadt. Und die wollten gar nicht mehr verschwinden. Am Tag seines Amtsbeginns, es war der 1. Juli 1972, trat nämlich eine Gebietsreform in Kraft, die im Voraus in ganz Bayern Erschütterungen ausgelöst hatte. Die Zahl der Landkreise wurde schlagartig von 143 auf 71 reduziert. Zu den Opfern zählte auch der Landkreis Wasserburg.
Noch Jahre später löste die Malaise bei dem Juristen Geiger einen kernigen Grant aus. Denn der Verlust des Landratsamts zog einen Schwund an Einwohnern und Arbeitsplätzen nach sich, und selbst Wasserburgs Bedeutung als zentraler Schulstandort geriet in Gefahr. Wollte die Stadt ihre Funktion als Mittelzentrum erhalten, bedurfte es nicht nur größter Anstrengungen, sondern auch politischer Visionen, wie sie Geiger freilich in reichem Maße besaß.
Letztlich erwies sich der Bürgermeister als ein Glücksfall für Wasserburg, denn es gelang ihm trotz aller Widerstände, die Stadt nach der Auflösung des Landkreises politisch, wirtschaftlich und kulturell zu stabilisieren und attraktiv zu halten. Nur, dass sie nun halt mit einem Theater, einer Bibliothek und einem Freizeitbad für sich warb. Waren die Ängste der Bevölkerung vor der Landkreisreform also doch grundlos gewesen?
Unter allen Härtefällen der Gebietsreform war Wasserburg wohl der krasseste Fall. Ein Landkreis, dessen Fundamente auf einer tausendjährigen Geschichte ruhten, sollte von der Bildfläche verschwinden, undenkbar. Die geplante Auflösung löste Massenproteste und großes Misstrauen aus. Wem konnte man überhaupt noch trauen? Auf eine Anfrage des Landrats Josef Bauer (CSU) antwortete der bayerische Innenminister Bruno Merk im Februar 1970, der Landkreis Wasserburg habe eine "gesunde Struktur" und könne auch in Zukunft die auf ihn zukommenden Aufgaben erfüllen.
Der Landkreis sei bei einer Neugliederung nicht gefährdet, schrieb Merk, der seinerzeit 50 000 Einwohner als Richtgröße für den Fortbestand eines Landkreises nannte. Im Kreis Wasserburg lebten damals 53 000 Menschen. Nach der Landtagswahl 1970, bei der die CSU einen Stimmenanteil von 56 Prozent erreichte, wurden die Karten neu gemischt. Ministerpräsident Alfons Goppel (CSU) erklärte nun, für den Erhalt der Selbständigkeit seien 80 000 Einwohner erforderlich. In Wasserburg schrillten die Alarmglocken.
"In den 60er-Jahren sollte alles besser, moderner, effizienter werden", sagt der frühere Landtagsdirektor Peter Maicher, der die Folgen der Gebietsreform im Wasserburger Nachbarlandkreis Ebersberg erforscht. Nur durch eine Reform der Kommunalverwaltung, hieß es, ließe sich eine personelle und finanzielle Überforderung kleiner Landkreise und Gemeinden verhindern. Neun Landkreise in Bayern hatten bis zum 1. Juli 1972 weniger als 20 000 Einwohner. Goppel nannte die Kreisgebietsreform in seiner Regierungserklärung vom 25. Januar 1967 die wichtigste innenpolitische Aufgabe. Die Umsetzung oblag dem damaligen Innenminister Bruno Merk (CSU) und dem Staatssekretär Erich Kiesl (CSU).
Dass die kleineren Landkreise Widerstand leisten würden, war von vornherein klar. Der Vilsbiburger Landrat Hans Geiselbrechtinger sprach im Februar 1971 vom "Schafott für die Landkreise". Und selbst in Teilen der CSU begegnete man dem Plan mit Skepsis. Einer der Hauptgegner der Gebietsreform war - kaum zu glauben - Franz Josef Strauß, der sich aber in dieser Frage erstaunlicherweise nicht durchsetzen konnte. "Bisher hat mir noch niemand klar machen können, worin die Vorteile dieser Gebietsreform liegen", pulverte er. Strauß kritisierte Merk noch Jahre später wegen der Vernichtung Tausender Mandate.
In seinen "Erinnerungen" schrieb Strauß, es sei eine Fehlentscheidung gewesen, "den traditionsreichen Landkreis Wasserburg aufzulösen". Er ärgerte sich aber auch über die Einverleibung der alten fränkischen Bischofsstadt Eichstätt nach Oberbayern. Einen unhistorischen Sinn erkannte er zudem in der Entscheidung, den Landkreis Aichach, den Sitz der Wittelsbacher Stammburg, von Oberbayern nach Schwaben zu schieben. Merk war der Buhmann, aber er drückte das Vorhaben unbeirrbar durch.
Im Oktober 1971 riefen gut 5000 Wasserburger bei einer Protestkundgebung in München zum Kampf für die Erhaltung des Landkreises "mit allen Mitteln" auf. Landrat Bauer flehte: "Gott schütze unseren Landkreis." Und er klagte: "Unser Landkreis soll mit mittelalterlichen Methoden gevierteilt werden." An der Fassade des Rathauses war zu lesen: "Gerechtigkeit oder Willkür - sind wir Wasserburger ein Kolonialvolk?" Über Innenminister Merk ergoss sich eine frühe Form der heute so beliebten Hassreden: "Ein Judas in unseren Reihen", hieß es, oder: "Merk und Kiesl, auf zum Schichtl." Oder: "Der Blitz soll sie streifen." Es ging drunter und drüber: Sowohl im Stadtrat als auch im Kreistag Wasserburg trat die jeweilige CSU-Fraktion geschlossen aus der Partei aus.
In ihrer Existenzangst gingen nun auch die Nachbarlandkreise aufeinander los. Alle fürchteten ihren Untergang, ständig loderten neue Varianten, Machtspiele und Intrigen auf. Und es war auch nicht so, dass die Kreisstädte sehnsüchtig auf eine Vergrößerung gewartet hätten. "Da müssen wir ja unseren Boden im Landratsamt erneuern, wenn die Provinzler mit ihren genagelten Schuhen kommen", lästerten die Rosenheimer über die Wasserburger. Eine Schlüsselrolle in diesem Ringen spielte der CSU-Landtagsabgeordnete Otto Freiherr von Feury (1906-1998). "Eine Zerstückelung des Landkreises Ebersberg. Das wäre ja irrsinnig", schalt er. Seinem Einfluss ist es maßgeblich zu verdanken, dass der Landkreis Ebersberg schließlich weiterleben durfte und der Landkreis Wasserburg auf die Landkreise Rosenheim, Ebersberg, Erding und Mühldorf aufgeteilt wurde.
Es gab aber auch erfolgreiche Rebellen
Zweifellos haben kleine Regionalfürsten sowie Freunderlwirtschaft und Animositäten den Zuschnitt der Gebietsreform maßgeblich beeinflusst. Der Historiker Ferdinand Kramer verweist aber auch auf den Verlust an politischer Partizipation. Die Bayerische Verfassung von 1946 und die Gemeindeordnung von 1952 hätten den Gemeinden und kommunalen Gebietskörperschaften einen hohen Stellenwert zugemessen, sagt er.
Die sieben Bezirke, 143 Landkreise und circa 7100 Gemeinden galten als Ort und Schule der Demokratie. "Es war also ein tiefer Schnitt ins Fleisch, sie von 1972 bis 1978 in ihrem Zuschnitt und in ihrer Funktion wesentlich zu verändern", sagt Kramer. Nach dem Abschluss der Gebietsreform 1978 blieben neben 71 Landkreisen nur noch 2052 Gemeinden übrig, was einen Verlust der Hälfte der Landkreise und von mehr als 5000 Gemeinden im ländlichen Raum bedeutete. Das Land verlor dadurch 32 000 ehrenamtliche Mandate. "Diese Träger waren auch Mitgestalter und Anwälte ihrer Region", bilanziert Kramer.
Dass sich dabei auch menschliche Dramen abspielten, war der unvermeidbare Preis eines solchen Mammutprojekts. Eine tausendjährige Geschichte wie im Falle Wasserburgs spurlos hinter sich zu lassen, dauert vermutlich hundert Jahre und länger. Manche Wunden von damals schmerzen bis heute, zumal sich die Erwartungen größerer Effizienz und geringerer Kosten nicht immer erfüllt haben. In Wasserburg, so sagt der frühere Kreisheimatpfleger Ferdinand Steffan, vermuten aber manche, ohne die Reform stünde die Stadt gar nicht so gut da wie heute. Unübersehbar aber leiden andere aufgelöste Kreisstädte unter Verödung und wirtschaftlichem Ausbluten. Es mutet fast paradox an, dass der Staat jetzt wieder Behörden in jene Regionen verlagert, die er einst entkernt hat.
Und dann gab es noch jene Rebellen, die sich so lange widersetzten, bis der Staat resignierte. Wie die Gemeinde Ermershausen in Unterfranken, deren Bewohner sogar das Rathaus besetzten. 1994 erhielten sie ihre Selbständigkeit zurück, eine kuriose Fußnote einer Jahrhundertreform, die wohl unabdingbar war, aber mit viel Tränen und Verdruss erkauft wurde.