Manche sind einfach aufgestanden und gegangen. Ihnen war das alles zu viel, so ganz ohne Fleisch. Sie wollten Wurstsalat, keine Mangoldkaspressknödel mit Tomatenpesto oder Mannourikäse und Salat; Schweinsbraten und nicht Wirsing Involtini mit Nuss-Buchweizenfüllung, Zwetschgenchutney und Kürbisnockerl. Sie wollten das, was man eben vom kulinarischen Innenleben einer Biergartentheke erwartet. Aber das Übliche gibt es nicht mehr im Schellenberg in Bergen am Chiemsee. Seit Manja Wolf-Voit das Gasthaus mit einem der schönsten Biergärten der Gegend an Ostern übernommen hat, herrscht hier eine appetitliche Vielfalt, an die sich viele erst noch gewöhnen müssen. Oder es aber gar nicht wollen.
"Ich hätte anfangs nicht mit so viel Widerstand gerechnet", sagt die 37-Jährige. "Aber die Leute haben eben eine bestimmte Vorstellung, wie Dinge zu sein haben. Und wenn es etwas Neues gibt, haben viele erst mal Schwierigkeiten damit." Anfangs seien aus dem Ort viele gekommen, das habe sie gefreut. Aber dann bekam sie öfter zu hören: Ohne Fleisch, das geht nicht. Etwa jeder Zehnte sei wieder gegangen. Ein Biergarten und ein Wirtshaus haben für viele eine wurst- und fleischgefüllte Speisekarten zu haben, sonst ist es nicht echt bayerisch. Der Biergarten ist für viele fester Bestandteil ihrer Kultur und soll sich in seinem Wesen möglichst nicht ändern. Mal was Neues ausprobieren? Lieber nicht.
Was in einer Stadt, in der immer mehr Menschen aus ethischen oder gesundheitlichen Gründen auf Fleisch verzichten, wohl kein Problem wäre, war auf dem Land eins. Aus dem Ort selbst kämen immer noch eher wenige, sagt Wolf-Voit: "Aber einige aus Bergen unterstützen uns, das sind eher die Jungen, und ein paar Stammkunden haben wir auch." Die Gemeinde habe ihr von Beginn an geholfen, hier begrüßte man das neue Angebot an Gerichten. Das Gros der Gäste käme von außerhalb, viele würden extra nach Bergen fahren, um zu testen, wie der Schellenberg jetzt schmeckt.
Der Verein zur Erhaltung der Biergartentradition Lenggries kümmert sich um den Bestandsschutz des bayerischen Kulturguts. Die Vorsitzende Ursula Seeböck-Forster sieht kein Problem darin, wenn es mal keinen Wurstsalat im Biergarten gibt. "In Bayern gab es früher auch nicht immer Fleisch, und es kommt doch vor allem darauf an, dass es schmeckt", sagt sie. "Das wichtige am Biergarten ist die angenehm-entspannte Stimmung. Und sonst sollte auch hier die bayerische Devise greifen: Leben und leben lassen."
Ganz fleischlos ist das Angebot am Schellenberg inzwischen schon gar nicht mehr. Als Reaktion auf die Resonanz der Gäste gibt es manchmal Wurst zur Brotzeit und sonntags einen Burger mit Bio-Fleisch. Mit ihrer fast ausschließlich vegetarisch-veganen Küche ist Wolf-Voit eine Ausnahmeerscheinung in der Region und wohl auch in ganz Bayern - auch wenn es mittlerweile sogar eine Berghütte mit einem rein vegetarischen Angebot gibt: die Hündleskopfhütte von Silvia Beyer im Allgäu. Meist beschränken sich die vegetarischen Gerichte in den Hütten, Gärten und Wirtshäusern auf Käsespätzle und Salat.
Wolf-Voit verzichtet jedenfalls aus Überzeugung auf Wurst, Fleisch oder tierische Produkte. Seit ihrem zwölften Lebensjahr ist sie Vegetarierin und hat schließlich in ihrer Heimat Traunstein zwölf Jahre lang das einzig rein vegetarische Restaurant im Ort betrieben: eine Vitalkostkantine mit Cateringfirma. "Ich wollte immer zeigen, wie lecker es sein kann, seinen Fleischkonsum zu reduzieren oder ganz darauf zu verzichten", sagt Wolf-Voit. "Ich sehe das als meinen Auftrag und ich glaube auch, dass ich hier schon viele zum Nachdenken angeregt habe."
Das neue Erscheinungsbild des Gasthauses schreckt Alteingesessene ab.
Kürbisnockerl und Mannourikäse werden jetzt im Biergarten serviert.
Der Biergarten wird immer mehr zur Attraktion für Auswärtige.
Das Geschäft in Traunstein lief gut, viele waren froh über die Abwechslung und eigentlich hätte Wolf-Voit das auch nicht aufgegeben - wäre nicht im Dezember 2016 das Angebot vom bis dahin familienbetriebenen Gasthaus Schellenberg gekommen. Der Wirt hatte sie angesprochen, ob sie nicht seine Nachfolgerin werden wolle. "Ich bin schon als Kind hier gewesen und später mit meinen eigenen Kindern gekommen", sagt die Köchin mit den auffällig rotgefärbten Haaren. "Mit diesem Ort verbinde ich viele schöne Erinnerungen und hänge sehr an ihm."
Früher ist sie manchmal mit ihren Pferden hochgeritten, die auf der Koppel nebenan weiden durften. Dass sich mit ihrer Übernahme etwas ändern musste beim Schellenberg, zeigte der damalige Rückgang der Gäste. Also blieb sie ihrem fleischlosen Konzept treu und erweiterte es um Konzertabende. Typisch bayerisch, dachte die zweifache Mutter, gibt es schließlich oft genug. Sie renovierte die Innenräume und änderte das Erscheinungsbild vom eher dunkel-biederen hin zu einem hellen Stilmix mit vielen floralen Mustern, der einige Gäste unter den mächtigen Kastanienbäumen an ein Puppenhaus erinnert. Manja Wolf-Voit selbst kommt sich manchmal vor wie Pippi Langstrumpf mit ihren roten Haaren, dem gescheckten Pferd und ihrem bunten Haus. Auch die hat sich schließlich ihre Welt gemacht, wie sie ihr gefällt - und manchen damit begeistert.