Süddeutsche Zeitung

G8 vs. G9:"Der Stoff wird nur noch durchgezogen"

Julia Biermeier und Meren Pegler machen im kommenden Jahr Abitur, die eine am G8, die andere am G9. Geht es den G9-Schülern wirklich besser?

T. Baier und M. Thurau

Es herrscht Ausnahmezustand an Bayerns Gymnasien. Gleich zwei Schülergenerationen machen im nächsten Jahr Abitur: der letzte Jahrgang des neunstufigen Gymnasiums (G9) und die ersten Schüler, die nach zwölf Jahren ihre Reifeprüfung ablegen (G8). Die Klagen über Leistungsdruck und Stofffülle am neuen G8 sind bekannt, doch geht es den Abiturienten vom G9 wirklich besser? Auslaufmodell versus Versuchsobjekt - Tina Baier und Martin Thurau sprachen mit Julia Biermeier und Meren Pegler, die jetzt ihr Abschlussjahr vor sich haben. Julia Biermeier am G8, Meren Pegler am G9.

SZ: Wie sieht ein ganz normaler Schultag bei Ihnen aus?

Julia Biermeier: Der Unterricht geht von Viertel vor acht meist durchgehend bis vier. Dazwischen habe ich in der Regel eine Freistunde, meist aber schon um Viertel nach zehn, da kann man noch nicht Mittag essen. Dienstags geht es sogar ohne Pause durch. Ich bin dieses Jahr auf 38 Stunden pro Woche gekommen.

Meren Pegler: Ich habe dreimal die Woche nachmittags Unterricht; einmal sogar bis fünf Uhr, insgesamt sind es 35 Stunden. Dafür haben wir die siebte Stunde immer frei, als Mittagspause. Dabei ist es bei mir noch günstig, weil sich meine Fächer gut kombinieren lassen und ich deshalb keinen Leerlauf habe.

Biermeier: Manche von uns sitzen den halben Nachmittag in der Schule, nur weil sie um drei noch eine Stunde haben.

Pegler: Im nächsten Jahr komme ich auf 31 Stunden.

Biermeier: Ich auch.

Pegler: Da ist es dann wieder ähnlich. Ich glaube, dass sich G 8 und G 9, was die Belastung angeht, in der Oberstufe gar nicht so sehr unterscheiden. Aber in den unteren Klassen ist das G 8 viel krasser.

Biermeier: In den Leistungskursen der Oberstufe habt ihr immerhin vier Klausuren pro Jahr, bei uns sind es in den wichtigen Fächern nur zwei. Wenn du da eine Matheklausur versemmelst, kann es schon schwierig werden.

Pegler: Wir haben im nächsten Halbjahr auch nur eine Klausur, die dann allerdings doppelt zählt. Die Besonderheit bei uns ist ja wegen des doppelten Abi-Jahrgangs, dass die 13. Klasse gut zwei Monate kürzer ist. Wir fangen schon im Februar mit dem Abi an und sind Anfang Mai fertig, damit wir theoretisch gleich mit dem Studium beginnen können und nicht beide Jahrgänge gleichzeitig die Unis stürmen.

SZ: Wie viel müssen Sie zu Hause noch für die Schule machen? Bleibt Ihnen überhaupt noch Zeit für Anderes?

Biermeier: Hausaufgaben sind gar nicht so schlimm, die kann man in den Freistunden erledigen. Das Problem ist eher die Vorbereitung auf die Klausuren. Als wir im Winter den ersten dichtgedrängten Prüfungsblock hatten, war das schon heftig. Du bist frisch in der Oberstufe, kennst die Art der Aufgabenstellungen nicht, wirst nicht richtig darauf vorbereitet. Beim zweiten Durchgang war es schon etwas besser, aber trotzdem sind es drei oder vier Wochen, in denen man nur dasitzt und lernt.

Pegler: Wir hatten immerhin die elfte Klasse, um uns einzugewöhnen. Die Noten zählten noch nicht zum Abitur, man musste nur bestehen. Allerdings sind bei uns ziemlich viele durchgefallen. Bis einschließlich der zehnten Klasse hat man alle durchgezogen, sie hätten ja nicht ein Jahr zurückgehen können, weil wir der letzte G-9-Jahrgang sind. Aber nachdem sie die Mittlere Reife in der Tasche hatten, wurde ausgesiebt.

Biermeier: Das Schlimme ist, dass wir keine Zeit zum Verschnaufen haben. Nach zehn Stunden voller Konzentration geht einfach nichts mehr. Und das gilt für das ganze G 8: Wenn man den Kindern schon so viele Stunden aufhalst, muss man ein Ganztagskonzept mit einem sinnvollen Tagesrhythmus bringen, in dem feste Pausen und Neigungsfächer, die sich jeder aussuchen kann, eingeplant sind. Unsere Schule ist eine Ganztagsschule, mir jedenfalls hat das in den unteren Klassen gut gefallen, ich habe nicht darunter gelitten, nicht um eins daheim bei Mama zu sein.

Pegler: Ganztagsschule hielte auch ich für einen deutlichen Fortschritt, aber wir haben einfach nur den ganzen Tag Schule.

SZ: Geht es bei der Fülle an Stoff für viele nur noch mit Nachhilfe?

Pegler: In Mathe und Physik nehmen einige Stunden, eventuell noch in Chemie. In den Sprachen bringt das ohnehin nichts mehr, und die anderen Fächer sind Lernfächer. Wir versuchen eher, voneinander zu lernen, setzen uns mal in der Mensa zusammen hin. Das ist beim G 8 anders, vor allem in den unteren Klassen.

Biermeier: Ich hatte auch Nachhilfe. Jetzt merken wir es vor allem in Mathe, da wird der Stoff einfach durchgezogen. Und da kommen nicht nur die langsamen Schüler nicht mit. In anderen Fächern wie Geschichte, da geht es oft mit Bulimielernen: vor der Klausur schnell was reinhauen und dann rauslassen.

Pegler: Das ist bei uns nicht wesentlich anders. Bei den Lernfächern hat man den Stoff mitunter schnell nicht mehr präsent.

SZ: Frau Biermeier, Sie machen noch viel nebenher, zum Beispiel eine Schülerzeitung. Da kann es so schlimm nicht sein.

Biermeier: Ich habe das Glück, dass ich nicht gerade die schlechteste Schülerin bin, aber viel Zeit bleibt mir nicht mehr. Ich bin an einem musischen Gymnasium, da muss ich täglich noch eine Stunde Klavier üben, allein schon der Fingerfertigkeit wegen. Und wenn die Schülerzeitung raus muss, dann arbeite ich halt zwei Wochen lang bis ein Uhr nachts und stehe um halb sieben wieder auf. Kein Wunder, dass wir immer weniger Nachwuchs haben. Es engagieren sich auch immer weniger Schüler in der SMV oder in Arbeitsgruppen. Und wenn keiner nebenher seinen individuellen Vorlieben nachgehen kann, werden wir immer mehr zu Einheitsschülern.

Pegler: Uns fehlt auch die Zeit. Selbst Sport oder Musik macht fast niemand mehr.

SZ: Haben Sie Angst, dass die G-9-Schüler mehr können, weil sie doch mehr Zeit hatten, und deswegen das bessere Abitur machen?

Biermeier: Ich glaube nicht, dass sie das bessere Abi hinlegen werden, weil wir nett behandelt werden müssen. Der erste G-8-Jahrgang muss schließlich einfach ein Erfolg sein, das verlangt schon die Politik. Aber ich glaube, dass sie mehr wissen und mehr aus ihrer Schulzeit mitnehmen können.

Pegler: Im G 8 wird noch mehr auswendig gelernt, als das schon im G 9 der Fall war, und noch weniger richtig verstanden. Beim Abitur wird man den Unterschied noch nicht merken, aber an den Unis wird es sich schon zeigen. Es heißt vom Kultusministerium immer so schön, G 8 und G 9 haben doch die gleichen Notenschnitte, aber dabei lässt man unter den Tisch fallen, dass wir nicht gleich bewertet werden. Bei uns zählen die mündlichen Noten nur zu einem Drittel und nicht zur Hälfte wie bei euch. Darum können wir schlechte Noten in den Klausuren viel schlechter ausgleichen.

Biermeier: Wir dagegen haben durch die mündlichen Noten einen größeren Spielraum.

SZ: Fühlen Sie sich unter Druck als G-9-Schülerin, möglichst schnell ein Studium zu beginnen, Frau Pegler?

Pegler: Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum man unbedingt so früh fertig sein muss mit der Schule. Das Problem wird nur sein, dass nächstes Jahr womöglich fast doppelt so viele Erstsemester an die Universitäten strömen wie in den Jahren davor.

Biermeier: Ich hab' schon Angst. Darum habe ich mir auch schon einen Studienplatz gesichert. Am 1. Juli bekommen wir unsere Zeugnisse. Am 1. September beginnt mein Semester.

Pegler: Wir dürften tatsächlich sogar gleich am nächsten Tag in die Uni gehen. Aber ich glaube nicht, dass viele Schüler Lust darauf haben.

Biermeier: Eigentlich würde ich gerne ein Jahr ins Ausland gehen, so wie mein Freund das macht, der im G 9 ist. Aber das wäre wieder ein Jahr, das ich älter bin. Und es ist ja nicht so, dass die Unis nur im kommenden Jahr so viele Abiturienten aufnehmen müssen. Im Jahr nach uns werden in weiteren drei Bundesländern die doppelten Abijahrgänge fertig, und da hab' ich schon meine Bedenken.

SZ: Was sind das für Bedenken?

Biermeier: Dass ich nicht den richtigen Studienplatz finde oder dass die Uni, an der ich studiere, total überfüllt ist.

Pegler: Vielleicht lernen wir dann alle am Bildschirm. Ich frage mich auch, wo die ganzen zusätzlich notwendigen Professoren plötzlich herkommen sollen.

Biermeier: Ja, und wo die dann hin sollen, wenn wir wieder weg sind.

Pegler: Es ist so vieles unklar. Und zwar sowohl im letzten G-9- als auch im ersten G-8-Jahrgang. Alle denken: Das Kultusministerium weiß Bescheid, und wir bekommen die Informationen dann schon irgendwann. Aber ich habe den Verdacht, dass das Kultusministerium die Informationen gar nicht so viel früher hat. Auf jeden Fall ist der Informationsfluss sehr schlecht. Bei uns war zum Beispiel bis Anfang des Jahres nicht klar, ob wir im ersten Halbjahr der 13. Klasse in den Leistungskursen eine oder zwei Klausuren schreiben und wie die Noten gewichtet werden.

SZ: Wissen Sie schon, was Sie im Abitur erwartet?

Biermeier: Bei uns gibt es gar nichts, auf das wir uns stützen können. Es wurden zwar Prüfungsaufgaben zum Üben ausgegeben. Aber dann hat man festgestellt, dass sie zu schwer waren, und hat sie wieder eingezogen.

Pegler: Wir hoffen, dass unser Abitur so ähnlich sein wird wie in den letzten Jahren. Wir üben mit den Abituraufgaben, die die Jahrgänge vor uns gemacht haben.

SZ: Frau Biermeier, würden Sie gerne mit Ihrem Gegenüber tauschen?

Biermeier: Eigentlich nicht. Der letzte G-9-Jahrgang hat es wirklich nicht besser als wir.

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Quelle:
SZ vom 29.07.2010/mar
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