
Celine Kyewski, 20, Nürnberg
Es hat ein bisschen gedauert, bis Celine Kyewski angerufen hat. Sie hat Freunde, sie hat Hobbies, in ihrem Zimmer steht eine Nähmaschine, sie liebt japanische Comics. Und dann macht sie auch noch ihre Ausbildung bei der Bahn zur Zugbegleiterin. Da bleibt kaum Zeit, über Einsamkeit zu sprechen, und man fragt sich, ob jemand, der so viel unterwegs ist, überhaupt einsam sein kann.
Das Telefon klingelt. Kyewski redet schnell, so wie es junge Menschen tun, wenn sie mehr erzählen wollen, als ihr Mund zulässt. Und sie lacht viel. Aber ja, einsam sei sie oft. Wie viele ihrer Freunde, dann erzählt sie, wo sie vor zwei Jahren gelebt hat: in Eggenfelden. Da kommt sie eigentlich her. Da wartet auf sie an jeder Ecke eine Erinnerung. Da rast die Zeit nicht so vorbei, ist irgendwie alles entspannter, auch sie. Kyewski besucht dann ihre Mutter, ihren Bruder, die Schwester, ihre beste Freundin. Die wissen, wer sie ist, dass sie früher nicht ganz einfach war, und woher das kommt. Die können ihr auch mal einen Rat geben - und nicht nur sagen: "Wird schon wieder." So wie viele ihrer Freunde in Nürnberg, nein, Kyewski korrigiert: "sehr gute Bekannte". Wenn der eine mal keine Zeit hat, dann geht sie in Eggenfelden halt zum anderen. Oder besser: Sie fährt. Das ist auch so eine Sache. Sie vermisst das Autofahren. Und dass sie weiß, wo die besten Geschäfte sind. Sie mag die Großstadt, manchmal aber, da ist sie einfach zu groß.
Zweimal im Monat fährt sie heim. Im Zug sitzen, das kennt sie. Ein Jahr lang hatte sie eine Fernbeziehung. Kyewski redet jetzt nicht mehr so schnell. Sie haben sich getrennt, auch, weil er noch weiter weggezogen ist. Sie kann das verstehen. "Wenn man wirklich das machen will, was einem gefällt, muss man umziehen." Sie würde das genauso machen. Einsamkeit nämlich, das ist für sie nicht nur Heimweh. Das ist auch das Gefühl, wenn alles immer gleich ist und nichts Neues kommt. Dann muss sie weiter an einen anderen Ort. Sie weiß nicht, was sie dort erwartet, genau deshalb will sie ja hin, nur eines wird wohl gleich bleiben: Dieses erdrückende Gefühl, wenn sie an Eggenfelden denkt. Nell
Margit Stemberger, 81, Landshut

"Bei mir haben Sie die falsche Person erwischt", sagt Margit Stemberger, "ich kenne Einsamkeit gar nicht." Die 81-jährige Landshuterin lächelt so strahlend, wie es ihr nur möglich ist. Ihre Wohnungstür steht weit offen, damit der Besuch auch wirklich herein findet. Sie hat sich schick gemacht, in der Küche stehen Kaffee und Kekse bereit. In der blitzsauberen Wohnung lebt eine Frau, die sich wünscht, lange und ausführlich über ihr Leben erzählen zu können. Immer wieder bietet sie Kaffee an, damit der Besuch noch bleibt. Um sich von der Seele reden zu können, was ihr als Kind angetan wurde: die Schläge, mit denen sie ihr Stiefvater bei jeder Gelegenheit traktierte. Die Gleichgültigkeit und Kälte, mit der die Mutter es vermied, Anteil am Leben ihres Kindes zu nehmen. Das Unverständnis der Umwelt, die dieses Mädchen alleine ließ.
Im Grunde ein Nachkriegsschicksal: der Vater an der Front gefallen, als dreiwöchiges Baby bei Pflegeeltern untergebracht, dann im Alter von sechs Jahren von ihr fremden Menschen abgeholt - von der leiblichen Mutter und dem Stiefvater. Da habe sie sich schon einsam gefühlt, wirft Stemberger ein. Später setzte sich das Drama fort: Männer, die ihr keine Wärme boten, darunter zwei Trinker. Sie gebar einen Sohn. Was sie nicht an Halt bekommen hatte, konnte sie nicht weitergeben. Ihr Sohn wuchs wie sie bei Pflegeeltern auf. "Gute Menschen", sagt sie. Kontakt zu ihm hat sie "nur ganz wenig". Ihre Enkelkinder kennt sie gar nicht. Das sei "wie so ein rotes Band, das sich da durchzieht".
Mit 40 Jahren habe sie bereits schwere Depressionen hinter sich gehabt, Tabletten-Abhängigkeit, Verlassenheit. Erneute Flucht in eine Ehe. Flucht vor etwas, was Stemberger nicht "Einsamkeit" nennen will. "Noch einen Kaffee?", fragt sie. Der letzte Ehemann habe ihr gesagt, er werde sich nun scheiden lassen, damit er nie für sie aufkommen müsse. Ja, nun lebe sie alleine. Aber da sei niemand mehr, der sie schlägt, ignoriert, von sich wegstößt. Eines quält sie dennoch, "der Gedanke, in ein Heim zu müssen". Aber sie sagt auch: "Ich gebe mich nicht auf, niemals." dm
Richard Bücker, 44, Rosenheim

Richard Bücker wohnt alleine mit einem alten Kater. Jimmy ist oft wochenlang das einzige Lebewesen, mit dem er zu tun hat. Oder nein, das stimmt nicht ganz: Der Mann vom Pizzaservice, der ihm sein Essen bringt, den gibt es ja auch. Bückers Stimme färbt ein leiser ironischer Unterton. Seine Lage ist wirklich nicht die beste, aber ohne ein bisschen Humor wäre sie noch schlimmer.
Bücker ist bipolar, in einem Moment himmelhochjauchzend, im nächsten zu Tode betrübt, so kann man diese psychische Krankheit wohl beschreiben. Sie und chronische Arthrose kosteten Bücker seinen Job und viele Freundschaften, seit zehn Jahren arbeitet er nicht mehr. In der Jauchz-Phase, wenn er manisch ist, könnte er Bäume ausreißen, sagt Bücker, die Welt erobern. Rausgehen? Leute kennenlernen? Kein Problem. Und dann erwischt ihn die Depression. Da sitzt er dann daheim und kapselt sich von der Welt ab: Rollos runter, Handy aus. Manchmal sei er wochenlang für niemanden zu erreichen, sagt Bücker. Jimmy und der Pizzamann, das war's. Und dann, wenn sich sein Gemüt langsam wieder aufhellt und er sein Handy anschaltet, sieht er sie: Unzählige Anrufe und Nachrichten von Leuten, die sich ernsthaft Sorgen machen, und von solchen, die wütend sind. Warum er nicht zurückgerufen habe, wochenlang? Ob er noch alle Tassen im Schrank habe?
Die Saat für Freundschaften und Beziehungen bringt Bücker aus, wenn er manisch ist. Die Ernte aber kann er nie einsammeln. So kommt ihm das vor: "Nach jeder Depression hinterlasse ich verbrannte Erde." Es fällt ihm schwer, gleich beim ersten Kennenlernen von seiner Krankheit zu erzählen. Wer macht das schon? Und wenn, dann könnten viele nicht damit umgehen. Nur ein anderer Ausdruck für "arbeitsscheu", das sagte sogar seine Schwester zu ihm. Andere meinen, er könne sich ja melden, wenn es ihm wieder besser gehe. "Ich bin für dich da ohne Einschränkung", das sagt niemand. Das würde er sich wünschen, sagt Bücker. Bis jetzt aber ist Jimmy so ziemlich der einzige, der bei ihm geblieben ist. nell
Brigitte Schneider, 62, Germering

Brigitte Schneider ist eine Frau, die große Sonnenbrillen trägt und lange Ketten, die es liebt auszugehen, ins Theater, ins Kino, Menschen kennenlernen, vielleicht ja einen Mann. So war das schon immer. Männer haben sie oft angesprochen und überall, in der S-Bahn, im Supermarkt. Die roten Haare, ihr breites Lachen. "Nie ein Problem", sagt Schneider. Leicht, bunt, schön, so wünscht sie sich ihr Leben, so war es auch oft. Schneider sieht nicht ein, warum das jetzt anders sein sollte, nur, weil sie 62 Jahre alt ist. Aber offenbar war's das jetzt mit leicht, bunt und schön. So kommt ihr das zumindest vor.
Erst mal die Sache mit den Männern. Am Anfang, da könnten sich ja eher die Frauen vor Angeboten nicht retten, sagt sie. Jetzt aber, mit 62 Jahren, sei das so: Die Männer wollen trotz Glatze und Bierbauch junge, hübsche Dinger - und kriegen sie auch. Männer werden nicht alt, nur erfahren. Frauen werden faltig. So sei das in unserer Gesellschaft eben, sagt Schneider. Über zwanzig Jahre hatte sie so etwas wie eine Liebschaft, jetzt wünscht sie sich wieder einen wirklichen Partner. Freunde könnten das nicht ersetzen. Und so richtige Freunde, na ja, das sei eben auch schwierig. Vor acht Jahren starb eine Tochter von Schneider an Brustkrebs. Ihre Freunde jammerten über Parkplatzprobleme, sie hatte eine Tochter verloren. Das passte oft nicht mehr. Neue Freunde finden war auch schwer: "In der Trauerphase hat man keine Ausstrahlung." Sie kannte das schon, vor 35 Jahren hatte sie ihren Mann verloren. Damals aber hatte sie noch Kraft. Sie war jung und musste nach vorne schauen, schon wegen der Kinder. Jetzt aber ist ihre Tochter erwachsen, sie und ihre fünf Enkelkinder haben ihr eigenes Leben. Sie melden sich mal, wenn sie ein Auto brauchen. Schneider findet das gar nicht schlimm. Eine Mutter, die ständig anruft? "Das hätte ich als junge Frau auch nicht gewollt." Jetzt ist sie nicht mehr ganz jung, aber so ein bisschen Spaß hätte sie halt trotzdem gerne. Im Moment geht es noch, sie arbeitet als Schulbegleiterin, das lenke ab. Bald aber ist sie in Rente: "Das wird dann ganz schlimm." nell
Anna Binder, 50, Wending

Vierzig Jahre wären sie jetzt befreundet, Anna Binder (Name geändert) und ihre beste Freundin. Sie lernten sich in der Schule kennen, als junge Frauen hingen sie immer zusammen. Parties, Urlaube, der Reitstall, wo die eine war, da war die andere. Vierzig Jahre, das ist schon was. "Für die leg' ich die Hand ins Feuer", dachte Binder damals. Und: Wenn ihr eine bleibt, sicher die.
Ende 2011 dann bekam sie die Diagnose: Multiple Sklerose, eine chronische Erkrankung des Nervensystems, unheilbar. Die mit den starken Schultern und immer unterwegs. Kunstturnen, Mountainbiken, Reiten. So kannten sie ihre Freunde, sagt Binder in einem feinen Schwäbisch. Dann aber hätten die anderen gemerkt, dass sie nicht mehr funktionierte. Nichts mehr mit Reiten oder Radfahren. Heute kann Binder höchstens 20 Minuten am Stück gehen. Zehn Minuten hin, zehn zurück. Und auch nichts mehr mit ständig guter Laune. Fragten ihre Freunde sie: "Wie geht's?", sagte Binder: "Beschissen." Manche liefen heulend raus, als sie noch ein bisschen erzählte. "Nur über's Wetter reden, darauf kann ich verzichten", sagt Binder. Sie und ihre Kinderfreundin hatten nicht mal ein Gespräch darüber, dass ihre Freundschaft gerade zerbricht. Das haben sie irgendwie beide nicht geschafft. Von ihren engsten Freunden sei niemand mehr übrig, sagt Binder. Sie erklärt sich das so: Andere haben eine Familie oder einen Partner, die das Ärgste abfangen können. Da bleiben die Freunde oft. So beobachtet sie es bei anderen MS-Kranken. Sie aber hatte kein Auffangnetz, und ihre Freunde hätten wohl die Angst, dass "an ihnen zu viel hängen bleibt". Sie kennt immer noch viele Leute. An einem Tratsch hier und da fehle es nicht. Ein Gespräch aber, das tiefer geht, ein Rat, ein zusammen Nachdenken - das gibt es in ihrem Leben nicht mehr.
Letztens hat sie ihre Kinderfreundin wieder gesehen, in dem Stall, wo Binder noch ab und zu zum Quatschen hingefahren ist. Das wird sie jetzt lassen. Sie will die Frau nicht mehr sehen, die ihr einmal so nah war. Vierzig Jahre: "Das tut einfach zu weh." nell